stromschnellen

und immer veraendern sich dinge. alles ist seltsam. ich fuehle mich, als wuerde ich achtlos vor mich hintreiben, hin- und hergeworfen von der stroemung. heute habe ich unter grossem emotionalen aufwand einen meiner 37264 jobs gekuendigt. ich hoffe, das war eine gute entscheidung. ich versuche, kleine quality-of-life-improvements durchzufuehren in meinem leben. zum beispiel, mein schreibtischstuhl hat jetzt filzgleiter unten dran. so konnte ich die schreckliche, viel zu kleine bodenschutzmatte in den flur verfrachten. so sieht es wenigstens so aus, als haetten meine schuhe einen konkreten platz. haben sie natuerlich nicht, weil ich noch kein schuhregal habe. aber die illusion ist da.

es faellt schwer, nicht pausenlos zurueckzudenken. an letztes jahr, vor zwei jahren, vor drei jahren. meistens war ich um diese zeit in sankt petersburg. ich glaube, 2015 war das letzte mal, das ich ende april in berlin war, und da war ich noch mit florian zusammen. eine ganz andere welt. und auch da waren wir kurz vorher in norwegen. ich stelle fest, dass das leben ohne reisen, feste und konzerte nicht besonders lebenswert ist. es ist fraglich, wie lange es sich das aushaelt. wann werde ich das naechste mal auf einer buehne stehen und meine drittklassigen texte vortragen? wann werde ich das naechste mal so tun, als wuerde ich eine bar eroeffnen, um mehr gratis weinproben zu erhalten? wann wieder einen fussballmusterfoermigen abdruck auf meinem gesicht haben? wann von komplett fremden menschen durch eine menge getragen werden?

ich habe nicht das gefuehl, dass mein leben auf irgendetwas zusteuert momentan. eher im gegenteil, es scheint von allem wegzusteuern. ich vermisse sankt petersburg. aber ein grossteil meiner freunde ist nun auch nicht mehr da. beergeek existiert nicht mehr richtig. all die dinge, welche die stadt so extra-besonders gemacht haben. und nichtsdestotrotz vermisse ich sie. der ueberfuellte nevsky mit seinen praechtigen fassaden. bars an bars gereiht auf der nekrasova. zum einkaufen in 37 verschiedene laeden muessen. nachts an der fontanka entlang laufen. sekt zum fruehstueck bei granola. ausgefallene gin-kreationen im do immigration. pizza bei 22. super abgeranzt neben super hipster. ein leben voller gewohnheiten, gemuetlichkeiten. ich hatte meine plaetze, meine orte, meine rituale; all das sind dinge, die mir in berlin fremd sind. und dinge, die in berlin immer schon weit weg waren, rein geographisch gesehen.

ach, russland, ich wuenschte du wuerdest nicht von einem despotischen autokraten regiert werden. das wuerde mein leben viel einfacher machen. vielleicht, in zwanzig, dreissig jahren, wenn putin (hoffentlich) nicht mehr unter uns weilt, gibt es eine chance. vielleicht. aber dann bin auch ich schon alt.

ich bin so muede und lebenslustlos. es ergibt fuer mich gerade wenig sinn, sich tag fuer tag durch den gleichen trott zu kaempfen. jede zukunft scheint universen weit weg.

irgendwo anders

ein anderes leben
auf einem anderen planeten:
in bars gehen
freunde treffen
feiern und tanzen
konzerte
festivals
lieben und lieben lassen
einkaufen ohne test und ticket
in russland leben
in die zukunft planen
im meer schwimmen
reisen
bei fremden im auto mitfahren
geschichten erzaehlen und zu erzaehlen haben
ausgehen
sich schick machen
theater, kino und ballett
neue leute kennenlernen
wagemutig sein
spontaneitaet
ueberraschungen

woher weiss ich noch, wer ich bin oder
ob ich bin?
es gibt nur noch:
arbeit und
uni und
arbeit und
uni und
arbeit und
uni und arbeit und uni und arbeitund uni und arbeitunduni

ich bin immer noch muede, aber nur noch grundlos

dass die monate wechseln erkenne ich nur noch an den kalenderspruechen

vorfreude ist gecancelte freude

die welt ist leer.

„Саша :)“

„Саша :)“ steht auf meiner Dose mit Vitamin D-Tabletten. Ich hatte sie kurz vor meiner Abreise von Freunden in Sankt Petersburg abgekauft. Ich wusste nicht, wo ich Vitamin D herbekomme und meine Dose war leer, weil ich deren Inhalt aus Versehen zu 73 % auf dem Boden verschüttet hatte. Und meine Freunde hatten noch eine große Packung übrig. Und sie sagten: Kein Problem, komm her, du kannst es mitnehmen. Und sie schrieben „Саша :)“ auf die Dose, damit niemand vergisst, dass es meine ist.

An dem Abend hatte ich sie natürlich trotzdem vergessen. Die Vitamine wurden mir erst einen Tag vor meiner Abreise überreicht. Das Ganze ist nun circa zwei einhalb Monate her. Mittlerweile sind sie mit mir in Berlin und stehen auf der Arbeitsfläche in meiner Küche. Ich hebe die Dose hoch und schütte mir zwei winzige weiße Tabletten in die Hand. Dann trinke ich einen Schluck Wasser aus meiner gelben Trinkflasche und schiebe mir die erste Tablette in den Mund, schlucke, mehr Wasser, dann die Zweite. Ich betrachte das Etikett. Das „Саша :)“ hat sich schon ein bisschen abgenutzt, es ist nun kaum mehr zu erkennen. Das kommt mir sehr metaphorisch vor. Auch meine Zeit in Sankt Petersburg scheint zu verschwimmen, die Erinnerungen wirken abgenutzt. Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, dass ich dort gewohnt habe. Das Leben in Deutschland ist doch ertaunlich schnell wieder in seine gewohnten Bahnen gefallen – sofern das eben möglich ist.

Nichts

Auf der Fensterbank sitzen, Donuts in Herzchenform essen, Kaffee trinken, ruhig sein.

Breaks and Boundaries

Ich sitze also wieder in Berlin und viel hat sich geändert. Vorgestern habe ich mich nach fast drei Jahren von meinem Freund getrennt. Darüber muss ich natürlich erst einmal meine Gedanken zu Papier bringen.

Die Entscheidung war nicht einfach, aber sie war richtig. Davon bin ich überzeugt. Gestern hatte ich ein langes Gespräch mit einer Freundin über anxiety und gaslighting und Bindungsprobleme und natürlich hat all das den Nagel auf den Kopf getroffen. Man sollte nicht langfristig in eine Beziehung investieren, in der man keine Gefühle haben und zeigen darf.

Wie dem auch sei. Ich bin immer noch dabei, meine Wohnung einzurichten. Mittlerweile habe ich seit ein paar Tagen ein Bett. Das macht die ganze Sache schon einmal wesentlich gemütlicher. Nun fehlen noch hauptsächlich gemütliche Sitzmöbel und Computerkram. Aber alles zu seiner Zeit.

Ich fühle mich seltsam mit mir im Reinen, zumindest momentan. Ich versuche, früher aufzustehen und jeden Morgen Yoga zu machen. Das Aufstehen funktioniert nicht immer so gut (es ist eigentlich ganz witzig, Montag und Dienstag schaffe ich es fast immer, Mittwoch habe ich ein großes Tief und snooze meistens lange rum, Donnerstag fange ich mich wieder ein bisschen, Freitag na ja), das Yoga dafür ganz gut. Ein mal habe ich versucht, mich zum Laufen zu überreden, indem ich meine Laufklamotten direkt neben das Bett gelegt habe. Das war der Tag, nach dem ich mich getrennt hatte, also habe ich mich nicht dazu aufraffen können. Aber bald vielleicht.

Ich bin sehr zufrieden mit meinem Job und mit der Uni auch. Ich mache wieder Dinge, die mir Spaß machen. Ich habe so etwas wie einen Rhythmus gefunden und auch, wenn es manchmal stressig wird, habe ich doch das Gefühl, nicht permanent völlig in Arbeit zu versinken.

Ich arbeite an mir selbst und an meinen Grenzen. Manchmal nehme ich mir den Morgen frei, um mit Ansgar auf meiner Fensterbank zu sitzen und Croissants zu essen. Warum sollte ich mir das nicht gönnen dürfen?

Es stimmt doch, dass die Gelassenheit mit dem Alter kommt. Nun bin ich zwar noch nicht mal 30, aber der Unterschied zwischen 20 und fast 26 ist doch gewaltig. Ich habe nicht mehr dieses eindringliche Gefühl, Berge versetzen und alle und vor allem mich selbst beeindrucken zu müssen. Das hilft auf jeden Fall, sich weniger ruhelos zu fühlen – obwohl ich natürlich sehr gerne mal wieder verreisen wollen würde.

Das Foto oben stammt aus einem Spaziergang um den Tegeler See. Natürlich macht man das jetzt viel, mit Corona und so, spazieren gehen. Aber zu zweit ist es doch ganz nett. Es nimmt auch den Druck, seinen Gästen zu Hause etwas bieten zu müssen.

Ich freue mich ein bisschen darauf, Zeit mit mir selbst und meinen eigenen Sorgen verbringen zu können – ohne dabei immer jemand anderen im Hinterkopf zu haben.

Entspannung ist alles.

Neujahrsgedanken

Blaue Nacht wabert um mich herum. Es ist ungewöhnlich leise heute in meinem Apartmentblock. Die Stille inspiriert mich zum Nachdenken.

Ich sitze auf einer Matratze auf dem Boden, die neben einem aufgebauten Bettgerüst steht. Das Lattenrost ist noch nicht da. Das Bett steht triumphal neben mir, als würde es mich verhöhnen.

Mein Fenster ist ein Bilderrahmen, perfekt quadratisch, mit Ausblick auf das nächste Haus und einen kahlen Baum. Ob im Frühjahr die Blätter und Blüten die Fenster gegenüber verschleiern?

Mein Seelenleben ist seltsam leer. Ich bin aufgewühlt, aber zu beschäftigt, um mich dem Gewühl zu stellen. Also lasse ich meine Gefühle lieber im Abguss verschwinden.

In Sankt Petersburg sind Proteste, ich bin nicht da.
In Sankt Petersburg ist Schnee, ich bin nicht da.

Der Gedanke, dass ich nie wieder zu meinem gemütlichen, russischen Zuhause zurück kann, weil dieses gemütliche, russische Zuhause nicht mehr existiert, wiegt schwer in mir. Ich versuche, der Existenzlosigkeit entgegenzukaufen, aber nur mit bedingtem Erfolg.

Wo ich wohl wäre, ohne Corona?
Was ich wohl tun würde, ohne Corona?

Unbekannt Verzogen

In Berlin laufen die Touristen
nicht mehr
am Brandenburger Tor vorbei.
Die Touristen sind
nicht mehr vor dem Reichstag
und sie versperren mir auch nicht weiter
den Weg zur Uni.
Die rastlosen Reisenden verstopfen
nicht mehr
den Alexanderplatz und fragen
nicht mehr
nach dem Weg zu Primark.
Ich musste schon lange
keine Fotos mehr machen
für Fremde vor dem Berliner Dom.
Die neue Geschäftigkeit
zeigt sich am Einkaufswagengetummel im Supermarkt.
In Berlin
sind die Straßen leer
und die Gesichter der Menschen noch leerer.
In Berlin
ist es still in den Cafes
still in den Bars
und still auf den Tanzflächen.
In Berlin
hat der Herzschlag Pause
und die Herzlichkeit auch.
Bin ich hier richtig?
Bin ich die einzige, die sich das fragt?
Ich habe schon lange niemanden mehr gesehen.

Bitte A sagen und einmal laut aufschreien

Der zweite Blogeintrag über Sibirien liegt angefangen, aber seit Monaten (inzwischen, wow) unberührt in der Ecke. Ich habe gerade endlich The Bell Jar durchgelesen, und auch in meinem Leben stellen sich jetzt viele Fragen.

Es gibt so viele Abzweigungen mit so vielen Optionen, ich würde gerne abspeichern und gucken, was passiert. Vor einer Woche habe ich im Zuge armutsgefüllter Verzweiflung ein paar Bewerbungen geschrieben. Seitdem ich das Bewerbungenschreiben nicht mehr ernst meine, bekomme ich viel mehr positive Antworten. Diesmal zum Beispiel auf eine Bewerbung, die, außer meinem Lebenslauf, lediglich die zwei Sätze „I spent 60+ hours completing every single quest and achieving every single ending in NieR: Automata. If I could turn this dedication into money, my life would be perfect.“ enthielt.

Dieses Wochenende musste ich einen Coronatest machen und es war viel stressvoller als zwei Wochen lang jeden Tag 13 Stunden lang zu arbeiten. Das ganz ereignete sich so:

Am Freitagmorgen schreibt meine Freundin, dass sie Covid hat. Ich hatte sie am Sonntag davor erst getroffen, am Dienstag hatte sie unseren Unterricht auf online verlegt, weil sie nichts hatte schmecken können. Um eine verantwortungsvolle Mitbürgerin zu sein, habe ich mich natürlich nach einem Test erkundigt. Ich hatte zwar keine Symptome, aber das war mir dann doch zu heikel. Die erste Firma, bei der ich eine Anfrage hinterließ, behauptete, sie würde mich innerhalb des nächsten Tages zurückrufen. Daraufhin schickte mir eine andere Freundin, die die ganze Misere bereits hinter sich hatte, einen Link. Ich war irgendwie mit dem Ausfüllen des Formulars überfordert, also übernahm Zoe. Abgeschickt und bezahlt, am nächsten Morgen um 10 kommt der Test.

Ich sagte Anya, ich hätte alles bestellt, und Anya sagt, lies dir am besten die Instruktionen durch. Wo finde ich die? Na, in der E-Mail, die sie dir geschickt haben. E-Mail? Welche E-Mail? Anya schickt mir einen Screenshot. Ich habe keine solche E-Mail erhalten. Mir fällt auf, dass ich nicht korrigiert habe, was Zoe geschrieben hat, sondern einfach angenommen habe, das alles seine Richtigkeit hat. Meine Mundwinkel zucken. Ich denke: na ja, wenn sie morgen um 10 nicht da sind, rufe ich sie eben an.

Ich wache gegen 9 auf und bereue sofort, meinen Wecker nicht auf eher gestellt zu haben, da man eine Stunde vor dem Test nichts essen und nichts trinken darf. Dann warte ich. Um viertel nach zehn rufe ich die Nummer vom Link an. Nichts. Ich rufe noch mal an. Warteschleife. Na ja, okay. Warte ich eben.

Ich kritzle 15 Minuten in meinen Kalender, dann quatsche ich 10 Minuten mit David. Ich schreie einmal kurz in mein Kissen. Danach browse ich Instagram für 20 Minuten, dann quatsche ich wieder 15 Minuten mit David. Nach genau einer Stunde werde ich aus der Warteschleife gekickt.

Es ist 11, und es ist immer noch niemand da. Ich schreibe Zoe, ob sie sich erinnern könne, für wann genau sie den Test bestellt hatte. „Ich erinnere mich nicht. Vielleicht so 6-8?“, sagt sie. Ich seufze und beschließe, zu essen und einen Schluck Wasser zu trinken. Dann mache ich mir einen Tee. Ich kann die Firma immer noch nicht erreichen, beschließe aber, ab 5 vorsichtshalber wieder nichts zu essen und zu trinken.

Um die Zeit zu vertreiben schaue ich Handmaid’s Tale und streite mich mit David. Als wir uns wieder vertragen bestellen wir Sushi. Lieferzeit: 1,5 Stunden.

Das Sushi kam gegen 6 an. Langsam entwickelten sich aus meiner Mangelernährung und Dehydration resultierenden Kopfschmerzen. Um 7 bekomme ich einen erlösenden Anruf: wir sind in 5-10 Minuten da. Fast weine ich vor Freude.

Es klingelt. Ich öffne die Tür und warte unangenehm berührt im Rahmen, bis der Mann mit dem Test in den vierten Stock gelaufen ist. Ich schnappe mir meine Sendung und gehe ins Bad, dann fällt mir auf, dass ich zum Unterschreiben des Vertrags einen Stift brauche. Panisch laufe ich zu David in die Küche, weil ich nicht ins Büro, was neben der Tür ist, gehen möchte, denn sonst hätte mich der Liefermann gesehen. Er hätte sich sicher gefragt, warum ich durch die Wohnung laufe, statt meinen Test zu machen. Also holt David mir einen Stift.

Beim extrahieren des Biomaterials aus meinem Rachen muss ich würgen, als ich mir das Stäbchen in die Nase schiebe, fange ich an zu weinen. Alles in allem also weniger schlimm als erwartet.

Mit einer noch nicht ganz getrockneten Träne auf der Wange lege ich den Test zurück in die Styroporkiste des Lieferanten und verabschiede mich. Danach esse ich triumphierend genau 6 Sushi, bis mir schlecht wird, weil ich den ganzen Tag nichts zu mir genommen habe.

Am nächsten Tag wache ich mit Migräne auf, fühle mich aber trotzdem erleichtert, alles hinter mir zu haben. Ich esse ein Stück Brot, zwinge eine Ibuprofen runter und quäle mich in den Obst- und Gemüseladen, um eine Zitrone zu kaufen. Zurück Zuhause trinke ich einen Espresso mit Zitrone und fühle mich direkt besser (absolutes Wundermittel.)

Nach einer weiteren Folge Handmaid’s Tale sehe ich eine Nachricht, dass meine Testergebnisse angekommen sind. Ich hatte meine falsche E-Mail-Adresse im Vertrag zwar korrigiert, anscheinend hat dies aber niemand zur Kenntnis genommen. Dass Anrufen nichts bringt, wusste ich ja schon, also googlete ich как посмотреть результати хеликс (wie man bei Helix seine Resultate anschauen kann) und fand prompt 7 verschiedene Möglichkeiten.

Zuerst erstellte ich mir also einen Account auf deren Website, was mir als das Einfachste erschien. Allerdings akzeptierte dieser nicht meinen Namen und zeigte mir deshalb mein Resultat nicht an. Dann dachte ich mir, okay, vielleicht ist das ein Serverfehler, und ich versuchte es über die App. Das gleiche Problem. Dann sah ich, dass die Website einen Chat hat, über den man mit BeraterInnen sprechen kann. Darauf reagierte niemand. Dann sendete ich eine E-Mail, auf die bis zum jetzigen Zeitpunkt keine Antwort erfolgte, nicht einmal eine automatisch generierte.

Als ich schon fast aufgeben will, sehe ich einen großen, grünen Button auf der Startseite. RESULTATE ERHALTEN. Ich klicke den Button. Ich gebe meinen Nachnamen, meine E-Mail, und meine Auftragsnummer ein. Ich klicke auf SENDEN. Innerhalb von 5 Sekunden war meine E-Mail da.

Negativ.

Und trotzdem

Ich weiss, ich bin noch nicht fertig mit meinen Neuigkeiten aus Sibirien, aber mein Kopf ist gerade so voll. So voll und leer zugleich, und ich moechte lieber ueber etwas Anderes schreiben.

Nachdem wir mit Lyosha und dem Rest der Gang am Freitag das eine oder andere Bier zu viel hatten, haben David und ich den Samstag verkatert im Bett verbracht. Wir haben sowohl zum Fruehstueck als auch zum Abendessen bestellt (na ja, das Fruehstueck habe ich geholt. Der Punkt ist, wir haben nicht selbst gekocht). Und weil wir beide irgendwie muede und lethargisch waren, haben wir Fluch der Karibik geschaut. Und dann den zweiten. Und dann den dritten. Und es ist eigentlich gar nicht viel passiert und es war trotzdem ein sehr schoener Tag, trotz Kopfschmerzen.

Heute sind wir dafuer nach dem Fruehstueck eine grosse Runde gelaufen, Nevskij runter, bis zur Italyanskaya, dorthin, wo wir uns kennengelernt haben. Es war warm, also entschieden wir uns dazu, kuehle Getraenke zu kaufen. Wir sind also zurueck zur Fontanka und von dort nach Hause. Auf dem Weg haben wir noch Stefanie getroffen, die ungluecklicherweise zur Arbeit musste. Und auch das war sehr schoen alles.

Jetzt sitze ich im Wohnzimmer auf der grossen grauen Couch, und David ist in der Kueche. Er arbeitet an seinem Unterricht, ich tippe meinen Blog. Mein Herz war nie mehr zerrissen. Ich weiss, es ist die richtige Entscheidung, zurueck nach Berlin zu gehen. Nicht nur wegen der Annehmlichkeiten und der Angst vor einer erneuten Zuspitzung der Pandemie. Auch wegen meiner Zukunft, aus Geldgruenden. Weil es einfacher ist. Weil ich weiter studieren moechte, wenn auch nicht zwingend Osteuropastudien. Und trotzdem, wenn ich daran denke, schnuert es mir einfach die Kehle zu. Ich will hier nicht weg, will meinen Freund und meine Wohnung nicht verlassen. Wer weiss, wann ich wiederkommen kann? Ich fuehle mich immer noch nicht bereit dazu. Seit zwei Jahren versuche ich, hier zu leben. Ich habe mir gesagt, ich will wenigstens ein komplettes Jahr schaffen. Manchmal denke ich, die Pandemie ist nur ausgebrochen, weil das Universum einen neuen Grund suchte, mich davon abzuhalten hier zu wohnen. Ich weiss natuerlich, dass es Quatsch ist. Dass mir gar nichts bringt, mich zu beschweren, zu sagen, wie unfair das alles ist, zu schreien und zu weinen, mich in die Vergangenheit zurueckzuwuenschen. Ich weiss es, aber das macht es noch lange nicht einfach.

Natuerlich war nichts perfekt, als wir unsere neue Wohnung gefunden hatten, aber ich war zufrieden. Ich hatte ausreichend Geld, die Wohnung war fantastisch, meine Jobs waren okay, mein Fitnessstudio ein bisschen teuer, aber sehr nett. Ich hatte ein bisschen Erspartes und Urlaub in Portugal vor Augen. David und ich kamen gut miteinander klar. Es war okay. Es war sogar so okay, dass ich Angst hatte, nicht mehr weg zu wollen. Und ich hatte mir gedacht, na ja, ein Jahr oder zwei, das ist doch nicht so schlimm.

Jetzt habe ich sehr viel mehr Jobs, und sehr viel weniger Geld. Ich korrigiere Abschlussarbeiten, schreibe Artikel, uebersetze Werbung und unterrichte Deutsch. Und das alles nur, um am Ende des Monats meine Miete bezahlen zu koennen. Danach bleibt ein bisschen etwas uebrig fuer Essen und ein Bier oder zwei. Natuerlich will ich so nicht weiterleben, es ist unglaublich anstrengend und frustrierend.

Und trotzdem will ich einfach nur hierbleiben. Ich will, dass alles wieder in Ordnung ist. Dass Geld da ist, dass Work-Life-Balance da ist. Dass es Moeglichkeiten und Zukunftsperspektiven gibt. Und falls es mir dann doch zu viel wird, ein Wochenende Urlaub irgendwo mit besserer Lebensmittelauswahl. Aber das gibt es nicht mehr. Und ich bin muede. Und trotzdem…

Sibirien, Tag 1

Der Flug war anstrengend. Er war eigentlich nicht besonders lang (1,5 Stunden von Sankt Petersburg nach Moskau, knapp 2 Stunden Wartezeit, dann noch einmal 4 Stunden von Moskau nach Barnaul), aber sehr ungemütlich. Auf dem ersten Teil des Weges konnten David und ich nicht zusammensitzen. Das war okay, denn es war ja nicht wirklich weit. In der zweiten Maschine saßen wir direkt hinter der Business Class. Das bedeutete, dass wir die Plätze mit extra Beinfreiheit hatten. Es hieß aber auch, dass keine weiteren Sitze vor uns waren – bloß die kahle Wand mit drei einsamen, montierten Taschen. Ich nutze die vordere Reihe normalerweise dazu, um meine Füße in die Lücke zwischen Sitz und Fenster zu quetschen. Damit kann ich mich in eine angedeutete Liegeposition bugsieren und etwas dösen. Durch das Wegefallen der Sitze war das nicht möglich, und dementsprechend konnte ich nicht schlafen. Es war dunkel, und ich unendlich müde. Unser Flug ging am Freitag erst spät, um 17.00, ich musste vorher noch arbeiten. Mittlerweile war es 23.00 Uhr, und die Stewardess fragt freundlich „Rind oder Hähnchen?“ „Haben Sie etwas Vegetarisches?“, frage ich erschöpft. „Vegetarisch? Nein.“, gibt die Flugbegleiterin verwirrt zurück. Enttäuscht sinke ich zurück in meinen Sitz. Das laut schwatzende Pärchen hinter mir ist plötzlich verstummt. Ich drehe mich um. Sie sind weg. Sex in der Flugzeugtoilette? Ich schaue gelangweilt aus dem Fenster. Draußen wird es langsam hell. Wir fliegen Richtung Sonnenaufgang. Von hier oben sieht es aus, als bestünde Sibirien aus zahlreichen großen Pfützen. Ich sage: „Schau mal, es sieht aus, als bestünde Sibirien nur aus Pfützen.“ David sagt: „Red keinen Quatsch, das sind keine Pfützen.“ Ich sage: „Pfützen!“ David sagt: „Das sind Seen.“ Ich bestehe: „Pfützen!!!“ David seufzt und schweigt.

Wir steigen am zweitkleinsten Flughafen der Welt aus. (Der kleinste Flughafen ist in Trabzon, Türkei.) Die drei Meter vom Flugzeug bis zum erbärmlichen Gebäude müssen wir natürlich mit dem Bus zurücklegen. Die Sonne blendet. Rund um den Flughafen wiegen sich gold-grüne Pflanzen auf Feldern im Wind. Auf der anderen Seite des „Terminals“ ist ein Birkenwald. Wir werden von unserem Freund Kirill abgeholt, aber er ist noch nicht da. Unser Flugzeug ist früher gelandet als gedacht. Ich sehe mich um. Der Flughafen ist nach irgendeinem sibirischen Astronauten benannt, an der Fassade stehen lauter Daten und Infos. David zeigt aufgeregt auf einen alten sowjetischen Flieger. „Mach ein Foto für Instagram“ „Warum?“ „Ich dachte, das macht man so?“ „Wer interessiert sich für sowas?“ Ich mache ein Foto und poste es auf Instagram.

Besagtes Foto

Auf der anderen Seite sind regenbogenfarbene Blumenkästen in Mottenform. (Ich glaube, das ist der eleganteste Satz, den ich je geschrieben habe.) Ich möchte gerne einen mitnehmen. Leider sind sie sehr, sehr groß. Mit dieser Entdeckung haben wir die Sehenswürdigkeiten des Flughafens von Barnaul ausgeschöpft. Glücklicherweise hupt uns inzwischen ein silberfarbener Minibus an. Hinterm Steuer sitzt Kirill, der aussieht, als bräuchte er dringend Kaffee. Wir drücken aus, wie beeindruckt wir von seinem Auto sind und dass unser Flug ganz ok war. Dann machen wir uns auf den Weg zu seiner Oma.

„Ich habe sie gestern angerufen und ihr Bescheid gesagt, dass ihr heute kommt.“, informiert uns Kirill. „Aber du hast uns doch letzte Woche schon gesagt, dass wir nach unserer Ankunft direkt zu deiner Oma fahren, um dort Pfannkuchen zu essen?“, frage ich verwundert. „Na ja, mit Oma braucht man so früh im Voraus keine Termine zu machen.“ Ich nicke verständnisvoll. Die sibirische Landschaft zieht an uns vorbei, und der Begriff kommt mir sehr surreal vor. Sibirien, das bedeutet Gulags, Permafrost und Taiga. In der Realität sieht es eher aus wie Brandenburg. Eine abgefahrene Straße windet sich durch platte Felder, zwischendurch sieht man vereinzelt heruntergekommene Häuser. Das einzige, was fehlt, sind die Windräder, denke ich. Sibirien hat keine Windräder.

Bevor wir aus dem Auto steigen sagt Kirill „Nichts gegen euch, aber haltet bitte Abstand von meiner Oma. Und tragt eure Masken. Sie ist in der Risikogruppe, sie ist immerhin schon 60.“ Ich erkläre Kirill, dass seine Oma jünger ist als meine Mutter. Kirill zuckt mit den Schultern. „Meine Mutter könnte deine Oma sein“, sage ich. Kirill ist ein Jahr jünger als ich.

Das Haus von Kirills Oma hat eine Garage und einen kleinen Vordergarten. Die Fenster im Flur sind mit pinken Gardinen behangen. Wir gehen direkt hinein, die Vordertür ist natürlich nicht abgeschlossen. Auf dem russischen Dorf braucht man so einen Firlefanz wie Schlösser nicht. Kirills Oma begrüßt uns herzlich, und das Erste, was sie sagt, ist: „Nehmt doch eure Masken ab.“ Kirill sagt: „Warum tragt ihr eure Masken? Das ist übertrieben.“ Ich bin verwirrt, so wie ich noch viele Male verwirrt sein werde während dieses Urlaubs. Unser Freund lotst uns ins Wohnzimmer, während seine Großmutter in der Küche verschwindet. Ich lasse mich auf das gemütliche, dunkelgrüne Sofa fallen und habe Angst, direkt einzuschlafen. Glücklicherweise schaltet Kirill direkt den Fernseher an und zappt durch die Kanäle. Russland Ekstrim, MTV (das gibt es noch?), NTV, TNT, Deutsche Welle. Wir bleiben schlussendlich bei einem Sender hängen, der den ersten Mission Impossible Film zeigt. Kirill und David beschließen, einen Bro-Abend mit Actionfilmen und Energydrinks zu machen. Das laute Klatschen eines Highfives klingt durch den Raum. Dann deutet David auf den überdimensionalen gelben Plüschtiger in der Ecke. „Meine Mutter hat auch so einen“, sagt er. „Meine Schwester auch, und noch einen Zweiten, in weiß.“, erwidere ich. „Sie sind halt alle sehr geschmackvoll“, sagt Kirill. Dann ruft uns seine Oma in die Küche. Schleichend verlässt sie den Raum, während wir unsere Plätze suchen. Die Küche ist sehr modern eingerichtet, die Fenster zeigen zur Straße hin. Der Tisch ist klein, aber gemütlich, es gibt ungefähr 300 Uhren, eine davon digital. Wir trinken frischen Kaffee aus zierlichen Porzellantassen. Ich hätte gerne mehr, traue mich aber nicht, zu fragen. Ich sehe keine Kaffeemaschine. Ich frage mich, was für altertümliche Methoden Kirills Oma zum Kaffeekochen nutzt, dann fällt mir ein, dass sie immer noch jünger ist als meine Mutter. Ich schütte Milch in meinen Kaffee und frage trotzdem nicht. Zu den Pfannkuchen gibt es Smetana, außerdem eine kleine Schüssel mit Süßigkeiten. Ich greife mir einen Oreokeks und bereue es direkt, denn der Keks scheint schon seit einiger Zeit in dieser Schüssel zu liegen. Unglücklich schlucke ich die pampige Masse hinunter und spüle mit dem letzten Schluck Kaffee nach. „Kristina hat sich das Rezept für ihre Pfannkuchen von meiner Oma abgeguckt, es aber ein bisschen abgewandelt. Früher hat meine Oma viel zu viele Eier verwendet. Ich hasse Eier.“, erzählt Kirill, „Sie hat so viele Eier genommen, es waren keine Pfannkuchen mehr, es war Omlett. Also habe ich sie nicht gegessen. Dann hat mein Vater gesagt, stell dich nicht so an, das sind Pfannkuchen. Ich habe gesagt, probier doch mal. Sind das Pfannkuchen? Dann hat mein Vater probiert und gesagt ‚Nein, das ist ein Omlett‘. Seitdem benutzt Oma weniger Eier.“ Ich nicke und bin irgendwie zu müde, um den Sinn der Erzählung richtig zu verstehen.

Nach dem Essen legt Kirill das Geschirr in die Spüle. Warum er es nicht in die sich daneben befindliche Spülmaschine räumt, ist mir nicht klar, aber vielleicht ist das eben so in Sibirien. Danach machen wir uns auf den Weg nach draußen. Wir gehen einen Feldweg hinunter zu einem Baggersee, auch das erinnert mich irgendwie an Deutschland. Es fahren unnatürlich viele Autos auf dem Weg, der es trotzdem schafft, einsam und verlassen zu wirken. David erzählt, dass er als Kind einmal seinen Cousin mit einem Gürtel verprügelt hat. Kirill kann diese archaischen Methoden nicht so ganz nachvollziehen. Ich genieße die leere Landschaft und versuche, die beiden einfach auszublenden. Ich weiß nicht genau, warum wir zu dem Baggersee gelaufen sind, er ist nicht besonders pittoresk. Aber es tut gut, nach der mühsamen Reise die Beine ein bisschen zu strecken und frische Luft zu atmen.

Anschließend fährt Kirill uns in unser Hotel. Es sieht sehr edel aus, mit grünem Samt überall und goldenen Zimmernummern in seltsamer Schriftart. Das Zimmer selbst ist winzig. Neben dem Bett steht ein Pouf, natürlich aus grünem Samt. Wenn man das Fenster aufmacht, wird man vom Lärm auf der Straße direkt taub. Trotzdem bin ich innerhalb von drei Minuten eingeschlafen.

Was ist nur los mit Russland?

Ich bin richtig wütend. Ich sitze hier in Sankt Petersburg und schreibe einer Freundin „Und was machst du so, um dich beschäftigt zu halten?“ und sie antwortet „Neben der Arbeit? Na ja, Yoga, Serien gucken .. ach und ich fahre jetzt zu Anna, sie macht eine Party.“

Als ich die Nachricht erhalte bin ich fassungslos. Vor ein paar Tagen erst wurde bekannt gegeben, dass der Lockdown bis zum 31. Mai verlängert wird. Ab heute müssen wir Masken und Handschuhen tragen, wenn wir auf die Straße gehen wollen. Und meine Freundin fährt zu einer Party.

Dabei ist sie längst kein Einzelfall. Die Parks sind mit Absperrband versehen, als klares Zeichen dafür, dass hier niemand hinein soll. Trotzdem sitzen die Leute in der Sonne, spielen mit ihren Kindern auf den Spielplätzen, kuscheln sich in Grüppchen zusammen, um ein Foto vom einzigen Kirschbaum der Stadt zu machen.

Neulich war ich bei dem kleinen Obst-und-Gemüse-Laden um die Ecke, um meinen Wocheneinkauf zu erledigen. Es ist bereits eine weitere Person im Laden, also stelle ich mich in die Nähe der Glastür, das ist der weit entfernteste Platz. Auch, weil ich dachte, es signalisiert: hier ist voll. Zwei Minuten später klingelt das Türglöckchen, ein c.a 75 Jahre alter Mann kommt hinein und stellt sich direkt neben mich, c.a zwei Zentimeter Abstand. Entschuldigung?

Putin hat für April einen „arbeitsfreien“ Monat angekündigt, der sich im Mai verlängert hat. Das klingt nach Ferien. Die Realität ist aber, dass die Unternehmen ihre Angestellten für diese Freizeit selbst bezahlen müssen. Vom Staat gibt es dafür keine Hilfen. Ich denke, ich bin nicht die einzige, die auf diese Weise ihren Job verloren hat.

Ein anderes Thema: Miete. Diese wird oft persönlich vom Vermieter oder durch ihn beauftragte Agenten abgeholt, in bar. (Das Warum will ich so genau lieber nicht wissen.) Diese Praxis hat sich auch in Corona-Zeiten nicht geändert. Wir mussten also neulich Miete bezahlen, und der Agent kam vorbei, natürlich ohne Maske, und sammelte das Bargeld ein. Kein Tanz im Sinne von ich lege es hier hin, mache einen Schritt zurück und dann nimmst du es. Das ist ein großes Problem: so ein Verhalten gilt ja im Normalfall als unhöflich. Jetzt ist es so, dass das Gegenüber meistens die momentan empfohlenen Regeln nicht akzeptiert. Und seinen Vermieter vor den Kopf zu stoßen will man natürlich auch nicht. Also beugt man sich, schüttelt Hände (und desinfiziert diese dann ganz schnell wieder, sobald er verschwunden ist) und versucht, seine fassungslose Miene zu verbergen.

Auch die Informationslage in Russland ist schlecht. Wenn man nicht gerade in Moskau wohnt, hat man ein großes Problem, an vertrauenswürdige und vor allem kohärente Informationen zu kommen. Letztens bin ich gescheitert, also fragte ich eine Freundin, ob sie es genauer wisse. Sie ist Russin, ich dachte, sie kennt sich besser aus mit den lokalen Medien, in jedem Fall beherrscht sie die Sprache besser als ich. Die Antwort: „mir ist das ganze egal, ich lese keine Nachrichten.“ „Aber ist es nicht wichtig, mit den momentan geltenden Gesetzen vertraut zu sein?“ „Wenn es etwas wichtiges gibt, werden die Leute schon reden.“ Danach wusste ich auch nicht weiter.

An den Läden hängen jetzt Schilder, dass man sie nur noch mit Maske betreten darf, und nicht mehr als zehn Personen. Aber das interessiert keinen, nicht mal die Angestellten. Es ist trotzdem voll und niemand trägt Maske. Und wenn die Leute doch eine tragen, dann meistens unterm Kinn. Wenn man Glück hat vielleicht vor dem Mund, aber niemals vor der Nase. Warum? Was bringt euch das?

Ich wollte mir letztens einen Coffee-To-Go holen und dafür meinen eigenen Becher benutzen. Mir wurde gesagt, dass sie das nicht machen können. Okay, gut, Hygienevorschriften. Aber Bargeld annehmen ist okay? Dieses Bargeld, dass von so viel mehr Menschen angefasst wurde, als mein Becher, der die meiste Zeit unberührt im Schrank steht?

Ich liebe diese Stadt und ich liebe ihre Leute. Ich mag ihre unbekümmerte Art. Normalerweise. Jetzt sorgt aber genau die dafür, dass wir länger und länger in Quarantäne festsitzen müssen. Denn irgendwie scheint keiner zu verstehen: wenn ihr euer Verhalten nicht ändert, dann ändert sich auch an den Zahlen nichts. Dann ändert sich nichts daran, dass alle nicht essenziellen Geschäfte, Bars und Cafés geschlossen sind. Der Gedanke hier scheint zu sein: wird schon vorüber gehen.

Es ist mir klar, dass man den Gesetzen, den Medien und der Regierung nicht unbedingt traut. Es ist Russland. Und deswegen kann ich es dem Großteil der Leute hier auch nicht übel nehmen. Zumindest denen, die kein Englisch sprechen und sich nicht anderweitig noch ein Bild der globalen Lage machen können. Aber auch die scheinen sich nicht damit auseinander setzen zu wollen, dass man sich in Russland genauso an Regeln wie Mindestabstand und Maskenpflicht halten muss, damit wir alle endlich wieder am Mittwochabend in der Kneipe sitzen können.