Schlagwortsuff

Das Neue bleibt beim Alten

Ich bin irgendwie fett geworden. Das ist Nummer eins. Aber okay, kein Wunder, wenn man kein Sport machen kann und das Essen besteht hier nur aus Salz, Zucker und Geschmacksverstärker.
Nummer zwei ist, dass ich gerade heute (mal wieder) gedacht habe ‚Schön, meine Mückenstiche sind endlich weg‘, da surrt schon wieder so ein Vieh des nachtens um mein Ohr herum.

Heute waren es über 20°C. Ich konnte es ja fast nicht fassen. Wir haben ein großartiges Dachterrassencafé entdeckt, das direkt bei uns um die Ecke liegt. Außerdem war ich Falafel essen bei Menschen, die ein Falafelrestaurant in ihrer Wohnung haben. Also, literally. Man geht durch einen Innenhof, dann noch einen, dann drückt man ein paar Türen ein und klingelt und dann steht man in einer Wohnung, die nach Tee und Falafel duftet, Katzen schmiegen sich an deine Beine und es ist alles ganz furchtbar urig.

Ach ja, und dann war da noch gestern. Gestern ist ein wenig eskaliert. Nach der Uni (Examen, bäh) textete ich Tanja, weil ich keinen Schlüssel hatte, denn ich dachte, vielleicht können wir Kaffee trinken gehen, dann muss ich niemanden belästigen. Aber Tanja antwortete nicht. Es war jedoch so schön sonnig und warm draußen, dass ich einfach nicht nach Hause wollte, also fragte ich Zoe, ob sie mit mir Mittagessen wolle. Wollte sie. Wir kehren also bei Dve Palochki ein und unser Blick streift 1,1 l Long Island Ice Tea. Nun, diese Geschichte mit überdimensional großen Long Island Ice Teas kam mir aus dem letzten Jahr noch irgendwie bekannt vor. „Dumme Idee“, sagte ich. „Ja, total“, fügte sie hinzu, „Wer bestellt schon sowas?“ „Wir?“ „Ja, ok.“. Aus 1,1 l Long Island Ice Tea wurde ein ausgedehnter Pub Crawl, bei dem wir 6 Bars und jeweils einen Gin Tonic pro Bar abrissen.

Zum Schluss waren wir im Poison, wie immer, sangen ganz fürchterlich und schief Mardy Bum und This Fire (ein Song, der irgendwie gar keinen Text zu haben scheint außer ‚This fire is out of control, I’m gonna burn this city, burn this city‘). Dann gab Zoe auf und ging nach Hause, ich ging zu Tanja. Jedenfalls wollte ich das, aber ich war noch nie da, und mein Handy hatte irgendwann den Geist aufgegeben, und ich war unsicher, wo ich hinmusste. Also klingelte ich einfach auf gut Glück irgendwo, wo ich ihren Wohnort vermutete. Die Stimme, die aus dem Fernsprecher ertönte, klang unbekannt und ich war ein wenig verunsichert. Noch verunsicherter wurde ich, als mir zwar die Haustüre, nicht jedoch die Wohnungstür geöffnet wurde und ich ein wenig verloren im Treppenhaus herumstreunerte. Als ich schon aufgeben wollte und die Stufen wieder hinunterstieg, erklang von irgendwoher gottgleich eine Stimme: Was, hat niemand aufgemacht? Versuch’s noch mal! Du musst lauter klingeln! In meinem betrunkenen Zustand und ohne offensichtliche Personen im Treppenhaus war meine erste Reaktion zunächst Verwirrung. Dann realisierte ich, dass ich neben einer dunkel getönten Glasscheibe stand, hinter der eine Art Concierge saß. Es stellte sich am Ende heraus – ich hatte die richtige Wohnung gefunden.
Doch mein Glück währte nicht lange, nach kurzer Einkehr traf Stacey ein und zwang mich, mit ihr Brücken gucken zu gehen. Zu dem Zeitpunkt war es 3. Nach einem Pub Crawl, der 6 Bars umfasste, mag das vielleicht früh klingen, aber wir haben um 4 angefangen. Stacey und ich jedenfalls gingen erst mal in eine Bar. In der ich mir jedoch nur ein Wasser bestellte, weil ich eine verantwortungsvolle Erwachsene bin. Wir sind dann zu den Brücken, nur um festzustellen, dass die Sonne zwar schon aufgeht, die Palastbrücke aber geschlossen war, und ich außerdem überhaupt nichts sehen konnte. Da ich nicht erwartet hatte, so dermaßen lange unterwegs zu sein, hatte ich nämlich nur meine Sonnenbrille (mit Stärke) mit. Ich habe also die ganze Zeit zwischen Dunkelheit und Scharfsicht oder hell und verschwommen gewechselt. Und versucht, Photos zu machen, aber mein Handy hat immer noch Epilepsie (das Display wird alle zwei Sekunden grau und verschwimmt, wie ein gestörter Fernsehbildschirm) und man kann nicht allzulange drauf starren.

Lange Rede, kurzer Sinn: gestern war spaßig. Wir sind dann noch ein bisschen an der Neva spaziert und heim, der Fluss liegt nicht weit von unserer Wohnung.

Oh, ich habe gerade die Mücke getötet.

Flauschige Riesen-Enten sind übrigens nicht prototypisch.

Ah, und Stacey und ich waren Sonntag im Kino und haben Wonder Woman geschaut. Danach haben wir „Eis für Erwachsene“ ausprobiert, also Eis mit Alkohol. Koko Loko hieß meine Kreation und schmeckte nach Kokosnusslikör. Stacey hatte irgendwas, das nach Stout schmeckte. Es war unerträglich süß und danach war ich tatsächlich irgendwie leicht angetrunken. Leicht genug um sich im Cornershop um die Ecke (höhö) noch ein IPA (Gangster) zu gönnen.

Tausend Worte gehen schnell um, wenn man über Müll schreibt wie Gefühle und was die Tage so passiert ist. Aber wenn man ein Essay über die Geschichte des Internets schreibt, dann fühlen sich 1000 Worte an wie eine Ewigkeit. Wo ich gerade davon rede, ich sollte noch ein Essay schreiben. Verdammt.

Ich habe heute auch eine Note gekriegt für meinen Russischunterricht hier (der schrecklich war), ich wusste nicht mal, dass der bewertet wird, aber ich bekam 8/10 Punkte, was auch immer das heißen mag.

Es gibt kein deutsches Verb für das Wort to litter.

Welsh is going great. Ich freue mich auf meine Radtour. Meine Pläne nehmen immer mehr Gestalt an.

Ich habe angefangen, 13 Reasons Why zu schauen. Ich habe das Gefühl, dass die einzelnen Folgen irgendwie nie zum Punkt kommen und dann sind sie zu Ende und man denkt sich so: und was ist jetzt genau passiert?

Ich muss immer noch Kram über Zypern übersetzen. Langsam bin ich Zypern-Experte, aber ich habe auch wirklich unglaublich wenig Motvation und es dauert ewig. Es ist nicht nur langweilig, das Problem ist, dass fast jeder Satz auf Englisch grammatikalisch so verzerrt ist, dass man überhaupt nicht weiß, worum es geht und man erst mal stundenlang darüber nachdenken muss. Oder die Satzstruktur ist invertiert auf eine Art, die im Englischen einfach keinen Sinn macht und wenn man dann fertig ist mit lesen muss man alles neu schreiben.

Zoe kann manchmal unglaublich engstirnig sein. Wir hatten heute eine Diskussion über Grammatik. Zoe sagte „Can you pass me the paper towels, please?“, woraufhin Stacey sagte „I don’t know, can I?“ und ich meinte „God, I hate it when people do that“ and Zoe said „What?“ and I said „Because you’re supposed to say ‚May I have the paper towels, please?'“, darauf hinweisend, dass es theoretisch gesehen grammatikalisch inkorrekt ist in diesem Zusammenhang ‚can‘ zu benutzen. Das hat sie überhaupt nicht eingesehen und gemeint, dass das ja jeder so sagte, und dann müsse es ja richtig sein, weil sich Sprache verändert. Und wir erwiderten dann ‚Ja, natürlich, es ist umgangssprachlich verständlich und wird nicht als Fehler interpretiert, nichtsdestotrotz ist es theoretisch gesehen einfach falsch‘. Das hat sie nicht verstanden. Dann meinte ich „Im Russischen zum beispiel Пошли anstatt Поидём zu sagen ist auch nicht richtig, aber es tun trotzdem alle.“ und Stacey fügte hinzu „Oder один или одно кофе“ – das Beispiel hat Zoe dann richtig gefuchst, sie meinte dann, dass один кофе einfach nicht richtig ist, obwohl das ja alle sagten, das klinge ja ganz schrecklich und Leute sollten grammatikalisch korrekter sprechen. Daraufhin habe ich mich dann mental in eine Ecke geschmissen und angefangen laut zu weinen. In Realität habe ich einfach meinen Laptop aufgeklappt und Vokabeln gelernt.

Das Witzige ist ja, dass das von einer Person kommt, die sich selbst für unglaublich klug und aufgeklärt etc hält. Ich mag Zoe wirklich gern – aber eben weil sie einfach ist. Ich erinnere mich daran, wie wir, als wir The Dutch Guy kennengelernt haben, eine Diskussion über die Zukunft und Roboter hatten. Das heißt, Vincent und ich hatten diese Diskussion und Zoe saß neben uns und hat zugehört. Und damit meine ich, dass sie wirklich genau gar nichts zu der Konversation beigetragen hat. Hinterher meinte sie zu mir, sie hätte das Gespräch sehr genossen und sie liebe es, so intelligente Unterhaltungen zu führen, es käme leider nur zu selten vor. Woraufhin ich mich wieder mental in die Ecke geschmissen habe, und vor meinem geistigen Auge leuchtete eine Reihe rotblinkender Fragezeichen auf.

Aber nun, die Selbstwahrnehmung mancher Menschen ist merkwürdig. Und meine eigentlich auch.

Was so Wunderliches passiert

Russland ist ja ein Land voller Merkwürdigkeiten. Ein Land voller Wunderlichkeiten, ein Land zum Augenrollen, Naserümpfen, Augenbrauen hochziehen.

Ich bin vor zwei Wochen umgezogen, raus aus dem Wohnheim, rein in die Kommunalka. Noch russischer kann man wohl kaum wohnen. Wir, das heißt meine Zimmermitbewohnerin Zoe und ich, leben hier zusammen mit fünf anderen Parteien. In der Küche stehen vier Herde, im Bad vier Waschmaschinen, und jeder hat seinen eigenen Toilettendeckel. Aber wir haben 25qm ganz für uns allein, plus Abstellkammer, und jetzt endlich auch Internet. Außerdem bin ich nicht mehr auf die Metro angewiesen, was wahrscheinlich das beste an der ganzen Sache ist. Nun, zumindest nicht, wenn ich nicht gerade zur Uni fahre. Die ist ja am anderen Ende der Welt.

Aber was passiert sonst noch so Seltsames?
Seltsam ist, wenn man an der Kasse steht, auf dem Band liegen Bananen, Reis, Brot, Wasser, eine Packung Gojibeeren (die merkwürdigerweise hier recht beliebt zu sein scheinen) und der Kassierer nimmt die Packung Gojibeeren, murmelt etwas Unverständliches und schmeißt sie einfach weg.
Seltsam ist, wenn man im Hof von einer Frau angequatscht wird, die dich fragt, wie sie den Akku in ihr Handy einzusetzen hat – es ist ihr gerade in der Treppe runtergefallen – es aber perfekt hinkriegt, und eigentlich überhaupt nicht auf deine Hilfe angewiesen ist.
Seltsam ist, wenn man sich mit Obdachlosen, die im Keller gegenüber wohnen, anfreundet, weil dein Kumpel nicht mit zu dir nach Hause durfte.
Seltsam ist, zu erfahren, dass man hier nach elf im Supermarkt keinen Alkohol mehr kaufen kann.
Seltsam ist, wenn man in seiner Stammkaraokebar rumhängt, jemand dir erzählt: „Hey, ich stell dir mal die und die vor, die ist auch aus Deutschland!“, und es stellt sich heraus, dass sie mit dir zusammen studiert.
Seltsam ist auch, wenn man in eben genannter Bar ist, von der Bühne runtergeht und auf einmal liegen auf deinem Tisch zwei Packungen Pistazien.
Seltsam ist ebenfalls, wenn man in der Bar gegenüber rumhängt und der Barkeeper einfach kommentarlos dein Bier die ganze Zeit nachfüllt – mit der Begründung, dass man ja gegenüber wohnt und wohl öfter vorbeikommen wird. Und man dann anstatt um zwei um sechs Zuhause ist.

Aber manchmal trifft man in dieser Bar auch jemanden, den man mag, jemanden, mit dem man sich dann später wieder trifft, ein paar schöne Momente teilt, dann um 8.00 morgens nach Hause kommt und Nudeln mit Ketchup essend in der Küche sitzt und plötzlich geht die Tür auf und dein Nachbar kommt rein und frühstückt. Du gehst ins Bett, stehst drei Stunden später wieder auf und bewaffnest dich dann mit Sonnenbrille und Safttrinkpäckchen, um dich mit deinen Freunden zum Sushi zu treffen.

Manchmal möchte man aber auch einfach nur einen Brief versenden und muss sich dann rechtfertigen, warum man kein Fotoshooting im Anschluss möchte und auch seine Nummer nicht dem Posttypen geben will. Manchmal steht man vor einer Bar, tauscht sich aus über Geschichten von sexuellen Übergriffen und dann kommt ein besoffener Typ vorbei und grabscht einfach deine Hüfte.
Manchmal ist man einfach nur voller Hass auf all die Leute, die zu blöd sind, die Metro vernünftig zu benutzen und überall im Weg rumstehen. Überhaupt voller Hass auf die Enge, denn egal, wo man gerade ist, wo ein Gang ist, da ist auch ein Mensch drin, der ihn komplett versperrt. Manchmal sind sogar die Gehwege so eng, dass man auf einer Seite warten muss, bis entgegenkommende Personen an einem vorbeigelaufen sind.

In manchen Momenten liebt man aber auch einfach nur seine Mitbewohnerin dafür, dass sie immer das gleiche kauft wie man selbst und dann drei verschiedene Packungen Granola und 20 Eier im Schrank stehen.

Und manchmal, da ist eben einfach nur alles irgendwie okay.

Licht und Alkohol

Little boxes on the hillside
Little boxes made of ticky-tacky little boxes

20.30 Uhr in Berlin. 22.30 Uhr in Sankt Petersburg. 11.30 Uhr in Los Angeles.

„Wie war der Spaziergang?“ – „Gut, ein bisschen kalt.“ – „Es schneit draußen.“ – „Ja. Ich gehe mal kurz was essen.“, und macht dabei eine Handbewegung, als würde sie sich gerade etwas in den Mund schaufeln, dann verschwindet Nastja aus der Tür. Ich bleibe zurück in meinem, unseren Zimmer. Der Versuch, eine Skizze über das Startverhalten von Flugzeugen, angefertigt von meinem Mitbewohner in Berlin, an die Wand zu bringen, scheitert. Auf der lachs-beige-braun gestreiften Tapete bleibt kein grünes Klebeband haften. Ich fahre die einzelnen Linien mit meinem Finger nach, aber zu lange an die Wand zu starren bereitet mir Kopfschmerzen, also wende ich den Blick wieder zurück auf den Bildschirm. Ich trinke einen Schluck Wasser, mache mir einen Zopf und seufze. Ich seufze viel in letzter Zeit. Meine Haare sind lang geworden. Vieles ist irgendwie ein bisschen anders.

In der Küche ist Licht und man hört Stimmen. Eigentlich ist in der Küche fast immer Licht und man hört Stimmen. Langsam öffne ich die Tür und stelle meinen Rucksack mit den Einkäufen auf den Tisch. „Wie kannst du einkaufen gehen?“, werde ich von der Seite gefragt. Ich antworte mit einem verständnislosen Blick. „Ich meine, die Leute sprechen doch gar kein – oder fast kein – Englisch. Wie kannst du da einkaufen?“ – „Ich.. ich spreche Russisch.“, sage ich. Und füge in Gedanken hinzu: und zum Einkaufen muss ich auch nicht mit den Leuten reden. Zumindest nicht viel.
Ich war bei Lenta, um mir Nahrung für mein Abendessen zusammenzusuchen. An der Kasse werde ich gefragt, ob ich eine Bonuskarte besitze. Ich verneine. Daraufhin steht die Kassiererin auf und fragt alle umliegenden Menschen, ob sie ihre Karte dabei hätten, ob sie sie mal kurz haben dürfe. Ein Mann an der Kasse nebenan greift zerstreut in sein Portemonnaie und gibt sie meiner Kassiererin. Diese zieht die Karte zufrieden über den Scanner und blickt mich glücklich an. „Das macht 981, 50“. „Schön“, denke ich. Jetzt habe ich 100 Rubel gespart – ungefähr 1,50€.

„Trinkst du Alkohol?“ Ich stehe in der Küche und mache Frühstück. Skeptisch begutäuge ich mein vor sich hin köchelndes Porridge, meine Augen sagen „Wehe, du brennst an“, dann wende ich mich zu Lev, einem dunkelhaarigen Russen mit Hipster-man-bun, der ungefähr meine Größe hat. „Ja, schon.“, antworte ich. „Warum?“ – „Super. Es trinken hier nicht viele Leute.“ – „Doch, eigentlich schon.“, mischt sich ein Mädchen ein, das im blauen Kuschelstrampler auf der Heizung sitzt. Lev winkt ab. „Aber nicht richtig. Ich bin hier der Wohnheim-Alkoholiker, ich kämpfe allein an vorderster Partyfront.“ – „Ich kann versuchen, dich da zu unterstützen.“, sage ich und versuche fluchend, mein Essen umzurühren. Es klebt. Ich mache den Herd aus.
Ein paar Stunden später treffe ich Lev wieder in der Küche, er sitzt dort mit einem Freund vor einem Glas Bier, wortlos reicht er mir seinen Rucksack, aus dem ich mir eine Dose Heineken hervorwühle. „Wie lange bist du eigentlich hier?“, fragt er. „Bis Juli.“, sage ich. „Sechs Monate also. So eine kurze Zeit.. das reicht doch gar nicht, um zusammen betrunken zu sein.“ Er sieht ernsthaft besorgt aus. Ich nippe an meiner Dose. Wir trinken und erzählen ein bisschen vor uns hin. Nach dem zweiten Bier sagen die beiden, sie müssten gehen, sie träfen sich noch mit einem Freund in einer Bar, es sei schon spät. Sie wollten um elf da sein. Es ist elf. „Was ist das für eine Bar? Und wo?“, frage ich. „Sie nennt sich Klisch‘ – also Klischee – Metrostation Petrogradskaya.“ „Petrogradskaya?!“ „Petrogradskaya“ „Nein, Baltiskaya.“, korrigiert der Freund, dessen Namen ich vergessen habe. „Baltiskaya?!“ Ich bin verwirrt. Es entbrennt ein Streit. Lev ruft Igor an. Er flucht viel. „Baltiskaya“, sagt er schlussendlich. „Ich komme mit.“, sage ich. „400 Rubel Eintritt.“ „Kein Problem.“
In der Metro ist es laut, dafür sind nur wenig Menschen unterwegs. Lev holt eine halbleere 1,5l Flasche Bier aus seiner Tasche. „Das ist illegal“, sage ich. „Hier ist niemand“, ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck Bier. Levs Freund trinkt. Lev trinkt. Dann zaubert jemand eine Packung Suchariki hervor, Käsegeschmack. Bier und Chips in der Ubahn, fast wie Zuhause in Berlin. Dann stellt sich ein alter, runtergekommener Mann neben uns. Als Lev und sein Freund beginnen, sich vorzustellen, platzt die Illusion von Heimat. „Möchten Sie ein bisschen Suchariki?“ „Klar, gerne.“ seine dreckige Pranke verschwindet in der Tüte. Ich mache mir eine mentale Notiz, die restlichen Chips abzulehnen. Es entspinnt sich ein Dialog, den ich nicht verstehe, also versinke ich in meinen Gedanken, bis der mysteriöse Mann aussteigt und uns zurücklässt. „Wir mussten das tun, verstehst du.“, klärt Lev mich auf. „Sonst hätte er uns verprügelt.“ „Oder irgendetwas anderes“, fügt sein Freund hinzu. Warum nur kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern? „Warum das denn?“ „Das hier ist Russland. Die Leute sind so.“ „Ich glaube euch kein Wort.“ „Du wirst schon sehen. Die Leute hier sind gefährlich, wenn du ihnen nicht passt, aber wenn du mit ihnen redest, ist alles in Ordnung.“ Ich nicke verständnislos.
Draußen empfängt uns kalte Dunkelheit. Leise fallen ein paar Schneeflocken zu Boden. Ich friere und schlage mir die Kapuze über den Kopf, dann wird mir klar, dass ich dringend auf Toilette muss. „Ist es weit bis zur Bar?“ – „Nein, nein. Nur hier runter, über den Kanal, dann gleich dadrüben.“ – „Bist du bereit für extreme russische Erlebnisse?“ – „Was, wieso, ja?“ – „Ahhhh!“, schreit Lev und wir rennen los über die Straße und springen über einen Zaun auf den Gehweg auf der anderen Seite. Seufzend zeige ich mit meinem Daumen nach rechts. „Weißt du, dort ist ein normaler Bürgersteig auf der Brücke, den man normal über eine Ampel hätte erreichen können, wenn man sich vorher umgeschaut hätte.“, sage ich. „Ups“, sagt Lev und zuckt mit den Schultern. Ich seufze noch mal. „Wo lang jetzt?“ „Links.“ „Oder rechts?“ „Nein, links.“ „Ich bin nicht sicher.“ „Ich muss auf Toilette.“ „Warte.“ „Wir fragen diese Leute.“ uns kommt eine betrunkene, schlampig gekleidete Frau in Begleitung entgegen. Sie gestikuliert wild und flucht viel. Schließlich können wir die Informationen, die sie uns gibt, verwerten in ein „hier links und dann die übernächste Kreuzung rechts runter“. Wir irren noch ein bisschen durch den Schnee und die Nacht. Die Straßen sind fast leer. Es könnte still und angenehm erfrischend sein, wenn meine Blase nicht so drücken würde.
Bevor wir die Bar betreten, laufen wir drei mal aus Versehen dran vorbei. Aber dann dröhnt uns laute 90er Rockmusik entgegen, ein Freund begrüßt uns, ich verschwinde kurz nach hinten, es ist ein lauter, bierseeliger Abend. Leute moshen auf der Tanzfläche, zwischendurch verstummt die Musik, damit der DJ irgendwelche Fragen stellen kann. Ich tanze eng mit Igor, wir drehen uns im Kreis, ich muss fast kotzen und bin verwirrt, ich weiß nicht, wie spät es ist, weil ich mein Handy zu Hause liegengelassen habe, aber ich denke, ich möchte gehen. Alleine darf ich nicht – eine Frau, so jung, nicht mal Russin, allein im Taxi, nein, nein, du wirst garantiert entführt – also kommen sie alle mit, Lev, der Freund, und Igor, obwohl nur Lev und ich in Obukhovo wohnen. Letztere beiden werden auch nicht mehr vom Securitymenschen ins Wohnheim eingelassen, also brechen wir in das offenstehende Haus gegenüberein und erkunden dessen Keller. Irgendwann werden wir mit einem grünen Laserpointerlicht angeleuchtet. „Oh Gott.“, sage ich. „Entschuldigung, Entschuldigung!“, versichert Lev. Igor schaut entsetzt. Der Freund ist zu betrunken, um irgendetwas zur Konversation beizutragen.
Wir freunden uns mit dem Menschen hinter dem Laserpointer an. Er heißt Andrej und wohnt im Keller des Hauses. Er kann nicht vom Staat registriert werden, hat seinen Job verloren und sich deswegen ein Bett dort eingerichtet. Um ehrlich zu sein sieht sein Zimmer fast gemütlicher aus als meins. Während er uns seine Geschichte erzählt, füllen Rauchschwaden die Luft. „Eigentlich“, sagt er, „eigentlich hätte ich nur gerne mal wieder ein Bier.“, woraufhin Lev ihn freundschaftlich am Arm packt und nach draußen begleitet. Zu viert verschwinden sie, um Andrej eine kleine Freude zu bereiten. Ich gehe zurück ins Wohnheim. Igor erzählt mir, es sei fünf Uhr. Zeit, ins Bett zu gehen.
In meinem Zimmer erwartet mich Licht. Ich bin zu betrunken, um verwundert zu sein, dann erblicke ich Nastja, die mit ihrem Freund im Bett liegt. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott – ich habe nichts gesehen, überhaupt nichts, ahh!“, rufe ich und verdecke meine Augen mit meinem Ellenbogen. „Alles in Ordnung“, versichert mir Nastja, und die beiden verschwinden. Ich schlafe direkt kompromisslos ein. Vorher schaue ich noch auf mein Handy: keine neuen Nachrichten.
Am nächsten Tag finde ich beim Frühstück meine komplett dreckige Jacke in der Küche, außerdem eine kleine Ansammlung verschiedenster Kratzer auf meiner linken Hand, und keine Erinnerung daran, was ich gestern morgen noch in der Küche gemacht habe, bevor ich zu Bett gegangen bin. Außerdem finde ich Lev, der etwas zerstört mit einem alten Pink Floyd Shirt auf einem der kleinen, roten Hocker sitzt. „Ich sollte eigentlich um eins zu einer Besichtigung gehen.“, informiert er mich. „Was für eine Besichtigung?“ – „Ein bisschen Sehenswürdigkeiten herumzeigen, dies und das.“ – „Ja und?“ – „Es ist jetzt vier. Ich sitze immer noch hier in der Küche.“ – „Oh.. Na ja, nicht so schlimm. Hier ist es auch schön.“ Währenddessen verschütte ich bei dem Versuch, meine Pressstempelkanne zu benutzen die Hälfte meines Kaffees. „Ahh, verdammt!“, fluche ich. Zu den Kratzern auf der Hand gesellt sich jetzt noch eine Brandverletzung hinzu. Mürrisch nehme ich Kanne und Kaffee in mein Zimmer. Ich nippe ein bisschen an meiner Tasse, dann schlafe ich ein. Es ist aber auch wirklich noch zu früh zum nachdenken.

I like you a bit

Was zum Teufel ist eigentlich in den letzten Tagen passiert?

Freitag war ich wieder beim Hockey (und habe noch ein Tor gemacht. Ich hab’s langsam raus. Yeah.) Samstag hab ich irgendwie vergessen. Sonntag gab’s dann Barabend mit „den Mädels“ (vor ein paar Jahren hätte ich jetzt um Erschießung gebeten. Wie Zeiten sich ändern!). Aber zuerst traf ich mich mit meinen russischen Hockeyfreunden auf der Insel, um Fußball zu gucken. Jedenfalls war das der Plan. Ich hatte aber Sonntag meinen verwirrten Tag und habe die SMS mit der Wegbeschreibung nicht richtig gelesen. Ich bin also zu irgendeiner Metrostation geeiert, um da festzustellen, dass ich dort gar nicht hinsollte, also bin ich wieder zurückgefahren, aber mit dem falschen Bus, dann habe ich die Station verpasst, die meiner eigentlichen Station am nächsten war und musste voll weit laufen. Alles in allem war ich c.a. 50 Minuten zu spät und alles fing damit an, dass ich versucht hatte, Röstzwiebeln zu machen und zu spät gemerkt habe, dass ich die komplette Wohnung eingeräuchert hatte. Na ja. Nun. Fußball war gut; dass Zenit gegen ZSKA gewonnen hat glich die schmachvolle 5:0 Niederlage der Hertha ein bisschen wieder aus. Ein bisschen.
Anyways. Ich wollte mich danach noch mit den Eremitage-Mädels in einer Bar am Nevsky treffen. Ich war natürlich zu spät. Ich wollte Miss Russia bei Kazan abholen, also waren wir zusammen zu spät. Ich textete What’s-She-Called-Again und sie war auch zu spät. Die Andere Neue wohnte nebenan und sagte von Anfang an, wir sollen ihr schreiben, wenn wir in der Bar sind. Wir haben uns also alle kollektiv dazu entschieden, uns eine halbe Stunde später zu treffen, ohne das abzuklären. Wir sind Genies. Der Barabend verlief dann sehr lustig. What’s-She-Called-Again und ich haben aus Lust am Hedonismus einen 850ml Long Island Ice Tea bestellt. Danach war alles witzig. Miss Russia hat dem Barkeeper ihre Telefonnummer gegeben. Wir wurden dann rausgeschmissen, weil es hieß, dass bald geschlossen wird, also sind wir noch zu Miss Russia, die uns mit Karotten gelockt hatte. Es stellte sich heraus, dass es Tiefkühlkarotten waren. Aber egal, es gab mikrowellenaufgewärmtes Gemüse und alle waren zufrieden. Der Barkeeper hat sich auch tatsächlich gemeldet – Highlight des Abends.
Highlight des nächsten Tages war, dass Die Andere Neue und ich zum Ladoga See fahren wollten. Ich war Planer. Natürlich ging das schief. Wir trafen uns um zwölf am Finnländischen Bahnhof und kauften also ein Ticket nach Prioersk. Ich hatte irgendwo in Internet gelesen, dass man dahinfahren sollte, wenn man zum Ladoga See möchte. Prioersk also. Am Ende stellte sich heraus, dass der nächste Zug erst um 16.20 fährt und drei Stunden braucht. Wir entschieden uns dann, das Ticket verfallen zu lassen und wann anders zu fahren. Zum Glück ist Öffentlicher Verkehr in Russland nicht so teuer. Das Wetter zeigte sich von seiner besten Seite, sodass ich den ganzen Weg mit einem Schlenker über die Peter-und-Pauls-Festung zufuß zurückgegangen bin. Und ich habe offiziell den Sommer eingeläutet, denn ich habe ein Eis gegessen. Ich bin beim Auspacken dessen zwar fast überfahren worden, und es war auch nicht lecker aber hey. Eis.

Das war also Montag. Am Dienstag war ich ziemlich lange arbeiten und danach mit What’s-She-Called-Again im market place, weil ich noch einen Flyer für die liebste Zeitung designen musste und sie lernen wollte. Wir waren dann so lange da, dass die Speaking Club Menschen kamen und dann ist etwas Merkwürdiges passiert. Ich sitze nichtsahnend am Tisch und blicke mich um in der Erwartung, langsam Menschen eintrudeln zu sehen, die ich kenne. Und dann kam auch ein Mensch, den ich kannte. Allerdings nicht vom Couchsurfing. Und auch nicht aus Piter.
Sondern aus der Uni. Ich habe also zufällig in Sankt Petersburg eine Person aus meinem Russisch Literaturkurs getroffen, wie weird ist das bitte? Aber okay. Cool.
Am Mittwoch war ich ziemlich sauer auf die Menschen, mit denen ich meinen Palmyra-Comic zeichne. Und auf eigentlich alle im Büro. Also bin ich ziemlich früh abgehauen und habe den Ami angerufen, um ihn zu fragen, ob er mit mir Kuchen essen geht und irgendwie ist das ein bisschen ausgeartet. Wir waren spazieren, Kuchen essen, Kaffee trinken, im Park chillen und dann war es so spät, dass wir direkt von dort zu ein paar Leuten wollten, um Filme zu schauen. Wir haben den Ort nicht gefunden und sind in irgendeiner schäbigen Bar gelandet. Natürlich fuhr, als ich nach Hause wollte, längst kein Bus mehr, aber weil ich keine Lust auf Taxi hatte, habe ich dann bei Ami geschlafen, er hat ja schließlich drei Betten. Am nächsten Tag hab ich mir dann gedacht „Arbeit, nähh.“ und wir haben den ganzen Tag rumgegammelt, Se7en geschaut und gegessen. Danach war dann donnerstägliches CS-Meeting. Ich hatte What’s-She-Called-Again eingeladen, mit mir dorthin zu gehen, sonst wäre ich wahrscheinlich einfach irgendwann nach Hause gefahren. Auf meinem Weg dorthin jedenfalls fand ich einen regungslosen Körper auf dem Boden. Stellte sich heraus, dass es einfach nur ein bewusstloser Suffi war, aber trotzdem war ich in Sorge. Zuverlaessige Quellen haben mir spaeter mitgeteilt, dass mit der Person aber wohl alles in Ordnung ist.
Anyways. Ich wollte nichts trinken, weil ich ja am Tag davor schon so lange unterwegs war und ich heute wirklich in die Eremitage wollte. Also bestellte ich mit What’s-She-Called-Again ein Wasser für mich und ein Bier für sie.
Wenn das mal so einfach gewesen wäre. Wir warteten ewig, dann brauchte die Barkeeperin Stunden, um ihr Bier zu zapfen, dann wollte niemand unser Geld. What’s-She-Called-Again hat dann irgendwann angefangen von 30 runter zu zählen – wenn bis dahin keiner kommt, gehen wir eben ohne zu zahlen. Es wollte uns zwar keiner abkassieren, dafür stand plötzlich ein zweites Bier vor uns, das sich als herrenlos herausstellte. Natürlich kann ich als besorgte Person ein armes Bier nicht einfach so alleine auf dem Thresen stehen lassen, also beschloss ich kurzerhand, es zu adoptieren.
Fehler, man. Fehler.
Ich trank also das Bier. Dann hieß es „Wir gehen noch in diese andere Bar“. Okay, wenn ich dort bin, kann ich auch noch eins trinken. Dann kam What’s-She-Called-Again’s Part.
Kurzum, ich blieb sehr lange in dieser Bar. Ich trank sehr viel Zeug und gab viel zu viel Geld aus. Ich lernte sämtliche Menschen in diesem Etablissement kennen, inklusive merkwürdiger Österreicher, die sich als Deutsche ausgaben. Ich sang Bitter Sweet Symphony und Smells Like Teen Spirit und verabschiedete mich dann mit What’s-She-Called-Again und einem dubiosen Menschen. Eins führte zum anderen und ich war um viertel nach Sieben zuhause und ziemlich baked. Ich habe einen merkwürdigen Patchwork-Fisch, der mich heute morgen aus meinem Schal heraus angelächelt hat. Als ich am Küchentisch saß war ich immer noch so verplant, dass Хозайка mir empfahl, mich wieder hinzulegen. Also schlief ich noch ’ne Stunde und machte mich dann auf den Weg zur Arbeit. Ich habe das dumpfe Gefühl, immer noch nicht nüchtern zu sein.
Irgendwie enden meine Abende immer ganz anders als erwartet.

Sleep is for the weak

„You know what, I feel really happy. Not just on the outside, but really, completely, sincerely, genuinely happy. Like the shadow inside my head is gone for a while.“ „Well, in America we have a word for that.“ „Which is?“ „Drunk!“

Aber das ist nicht wahr, ich fühle mich nicht betrunken. Okay, gut, in dem Moment, in dem ich das sagte, war ich betrunken. Aber ich dachte es auch am Tag danach. Und am Tag danach. Ich denke es fast jeden Tag, wenn ich im Sonnenschein zur Arbeit gehe. Mir geht es hier wirklich gut und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich das, was man wohl im Allgemeinen zufrieden nennt.

Geschlüpft ist der Gedanke auf Chilääns Abschiedsrunde. Er schrieb „Um Acht in der Bar.“ dann schrieb er „Ich bringe noch wen mit.“ und dann „Ich rufe dich an, wenn ich losgehe.“ Bis Acht hatte niemand angerufen. Um halb Neun schrieb ich ihm eine SMS. Um Neun bekam ich die Nachricht, er sei jetzt unterwegs. Also setzte auch ich mich in Bewegung. In der Bar traf ich unerwartet auf Ami, der anscheinend die Begleitung darstellte, doch von Chilään keine Spur. Es stellte sich heraus, dass Ami seit c.a. anderthalb Stunden auf uns wartete, während sich Chilään fröhlich verspätete und ich Zuhause auf Neuigkeiten wartete. Na ja. Happens. Der Abend an sich verlief bierlastig, als ich an den Punkt kam, an dem ich mich ziemlich betrunken und fertig fühlte und bereit war zu gehen, lernten wir plötzlich die netten Russen vom Nebentisch kennen und ich sah mich dazu gezwungen, mit ihnen eine weitere Runde zu trinken. Wir verließen die Bar dann auf Aufforderung des Personals, закрываемся, wir schließen. Ups.

Samstag war auch so ein Abend. Ich war erst arbeiten, weil wir zu irgendeinem Event geladen wurden, auf welchem zwei meiner Mitvolontärinnen und ich dann gefragt wurden, ob wir Griechen seien. Klar. Jedenfalls wurden die Andere Neue und ich zum Essen eingeladen von ein paar Couchsurfing Leuten. Ich erwartete so fünf Personen. Wir waren c.a 25 und okkupierten das gesamte Restaurant. Es gab Hot Pot und ich habe mit Stäbchen gegessen und nach 30-minütigem Kampf hat es auch irgendwann geklappt, aber ich habe noch nie so lange gebraucht, um satt zu werden. Nach dem Essen verabschiedete sich die Andere Neue. Ich wollte eigentlich auch gehen, ließ mich aber „auf ein Bier um die Ecke“ überreden, schließlich waren wir nicht weit von meinem Haus entfernt. Aus einem Bier wurden zwei, auf einmal gab es Shots und als es dann hieß was nun? war ich plötzlich mit einem Russen, dessen Namen ich nicht wusste und einem in New York lebenden Chinesen, dessen Namen ich auch nicht wusste, der für mich einfach nur „der mit der verrückten Kokain-Story“ war, in einem schäbigen Hotel irgendwo im Zentrum der Stadt. Die verrückte Kokain-Story erklärt sich folgendermaßen: er vermietet im großen Stil Wohnungen über airbnb. In einer dieser Wohnungen lebte bis vor kurzem ein Mädchen, das auf einmal krass koksabhängig wurde, ein Loch in die Wand schlug, versuchte, vom Dach zu springen und dann ins Krankenhaus geliefert wurde. Sie wurde aus offensichtlichen Gründen rausgeschmissen. Das mit dem Hotel erklärt sich durch die Story: der Hong-Kong-Mann wollte mit dem Freund des Kokainmädchens telefonieren und die Geschichte klären. Derweil tranken der unbekannte Russe und ich seinen Alkoholvorrat aus. Wir wollten dann Freunde vom Hong-Kong-Mann in einer Bar treffen. Es stellte sich heraus, dass das auch meine Freunde waren. Ferner stellte sich heraus, dass die Bar zu voll war und wir deshalb nicht mehr eintreten konnten. Es war zwei Uhr morgens, wir wurden zum Salsa eingeladen und gingen dann doch weiter in einen Club. Dort trafen wir allerlei Proletariat, unter Anderem einen Typen aus Deutschland. Diese Deutschen, die sind aber auch wirklich überall. Kurzum, nach mehreren Stunden netter Unterhaltung und schwitzigen Tänzen zu schrecklicher Musik war ich dann so gegen Sieben im Bett. Guten Morgen.

Sonntag dachte ich dann: ich schlafe aus und dann lerne ich ein bisschen, aber im Endeffekt war ich mit der Anderen Neuen shoppen. Ich habe ein Kleid gekauft, ich liebe es, es ist warm, gemütlich und wunderschön. Am Montag habe ich mir einen Block gekauft, mich an die Neva gesetzt, meine Jacke ausgezogen, die Sonne genossen und gezeichnet. Entspanntes Leben, entspannte Freizeitbeschäftigungen. Auch entspannt: mein langersehnter Besuch ist endlich da. Kommunikationstechnisch gab es einiges Hin- und Her und ich habe bereits jetzt mein ganzes Guthaben verbraucht. Aber das macht nichts. Donnerstag gehen wir wieder mal ins Theater, diesmal gibt es Schwanensee. Aufregend. Samstag bin ich eingeladen, um klassische litauische Tänze zu lernen. Посмотрим. Wir werden sehen.

Einmal Ja und zurück.

Das war also mein letzter Schultag. Wow. Ich bin ja ein bisschen überwältigt. Das ging jetzt doch alles ziemlich schnell. Ich hatte das zwar erwartet, aber wie schnell war dann doch etwas atemberaubend. Und es ist wahnsinnig viel passiert. In den letzten Tagen war ich dann auch unglaublich viel unterwegs und ich habe endlich meine Challenge erfüllt: mich mit den Briten zu betrinken. Gestern war nämlich St. Patrick’s Day und anlässlich dessen sind wir nach der Schule erst mal zum Lunch gegangen. Um zwei hatte ich dann mein erstes Bier getrunken. Also weiter in eine irische Bar, O’Hooligans, Fahnen, Luftballons und irische Hüte. Mehr Bier. Und Never Have I Ever. Aber wir konnten nicht bleiben, weil unser Tisch reserviert war, also auf in die nächste Bar. Und noch mehr Bier. Nun ist donnerstags aber auch immer Couchsurfing, also habe ich mich irgendwann verabschiedet und wollte mich mit dem Ami an der Metro treffen. Als ich aus der Tür trat fing es plötzlich an wie blöd zu schneien und zu regnen. Ich versuche also, angetrunken und vollkommen blind den Weg zur c.a. 1,5km entfernten Metrostation zu finden und brauche 40 Minuten. Na ja, passiert. Beim Couchsurfing dann noch mehr Bier, Salat und Pommes. Das Café schließt um elf, also wollte ich mit ein paar Leuten noch weiterziehen. 20 Minuten Fußweg. Ne doch nicht. Ami und ich verabschieden uns von den andern. Ich frage mich ja wirklich.. na ja, egal. Als ich zuhause ankam jedenfalls, hatte meine Gastfrau besuch, also gab’s noch ein Glas Sekt. Um eins war ich dann im Bett. Elf Stunden Suff und am nächsten Tag Schule. Wir waren dann auch nur zu zweit in der Klasse, aber hey. Es war auch alles ein bisschen emotional heute, war ja immerhin mein letzter Tag, also gab’s nach dem Unterricht auch eine kleine Abschiedsparty, mit Rede, Champagner und allem drum und dran. Ich habe sogar ein Zeugnis bekommen, siehe oben. Im Anschluss war ich mit den Britinnen 1 & 2 im Museum, wo wir noch einen anderen Briten getroffen haben. Zu viele Briten. Heute war ein wunderschöner Tag, der erste Tag, an dem sich Piter wettertechnisch von seiner bezaubernden Seite gezeigt hat. Als ich zur Schule fuhr, war die Neva exakt zur Hälfte gefroren, als ich nach Hause fuhr schwamm Eis darin – es sah atemberaubend aus, dazu dieser strahlend blaue Himmel, Sonnenschein, wow.
Heute war auch wieder Hockey – und ich habe mein erstes Tor gemacht. Yay! Was für ein Moment! Und Mittwoch war ich mit Ami in der Eremitage. Wir haben uns erst mal verlaufen. Aber macht ja nichts, dafür ist sie ja auch da, dafür ist sie so riesig. Ist ja kuschelig.
What is more: ein bisschen Gefühlsduseligkeit. Wenn ich so den ganzen Tag rumhänge und ausschließlich Russisch oder Englisch spreche, ist es schwierig bis unmöglich aufzuhören, auf Englisch zu denken. Dann gehe ich mir selber auf die Nerven, weil ich nicht dazu in der Lage bin, meine Gedanken exakt so auszudrücken, wie ich das jetzt gerne möchte und nicht zurück ins Deutsche wechseln kann. Even more: Sich gewählt ausdrücken zu können ist. so. verdammt. attraktiv.
Das war’s erst mal. Verwirrter Beitrag aus einem verwirrten Seelenleben.

P.S.: ich habe mein Zugticket nach Moskau und mein Flugticket nach Sochi gebucht. Shit is about to get real, man.