Schlagwortpetersburg

Licht und Alkohol

Little boxes on the hillside
Little boxes made of ticky-tacky little boxes

20.30 Uhr in Berlin. 22.30 Uhr in Sankt Petersburg. 11.30 Uhr in Los Angeles.

„Wie war der Spaziergang?“ – „Gut, ein bisschen kalt.“ – „Es schneit draußen.“ – „Ja. Ich gehe mal kurz was essen.“, und macht dabei eine Handbewegung, als würde sie sich gerade etwas in den Mund schaufeln, dann verschwindet Nastja aus der Tür. Ich bleibe zurück in meinem, unseren Zimmer. Der Versuch, eine Skizze über das Startverhalten von Flugzeugen, angefertigt von meinem Mitbewohner in Berlin, an die Wand zu bringen, scheitert. Auf der lachs-beige-braun gestreiften Tapete bleibt kein grünes Klebeband haften. Ich fahre die einzelnen Linien mit meinem Finger nach, aber zu lange an die Wand zu starren bereitet mir Kopfschmerzen, also wende ich den Blick wieder zurück auf den Bildschirm. Ich trinke einen Schluck Wasser, mache mir einen Zopf und seufze. Ich seufze viel in letzter Zeit. Meine Haare sind lang geworden. Vieles ist irgendwie ein bisschen anders.

In der Küche ist Licht und man hört Stimmen. Eigentlich ist in der Küche fast immer Licht und man hört Stimmen. Langsam öffne ich die Tür und stelle meinen Rucksack mit den Einkäufen auf den Tisch. „Wie kannst du einkaufen gehen?“, werde ich von der Seite gefragt. Ich antworte mit einem verständnislosen Blick. „Ich meine, die Leute sprechen doch gar kein – oder fast kein – Englisch. Wie kannst du da einkaufen?“ – „Ich.. ich spreche Russisch.“, sage ich. Und füge in Gedanken hinzu: und zum Einkaufen muss ich auch nicht mit den Leuten reden. Zumindest nicht viel.
Ich war bei Lenta, um mir Nahrung für mein Abendessen zusammenzusuchen. An der Kasse werde ich gefragt, ob ich eine Bonuskarte besitze. Ich verneine. Daraufhin steht die Kassiererin auf und fragt alle umliegenden Menschen, ob sie ihre Karte dabei hätten, ob sie sie mal kurz haben dürfe. Ein Mann an der Kasse nebenan greift zerstreut in sein Portemonnaie und gibt sie meiner Kassiererin. Diese zieht die Karte zufrieden über den Scanner und blickt mich glücklich an. „Das macht 981, 50“. „Schön“, denke ich. Jetzt habe ich 100 Rubel gespart – ungefähr 1,50€.

„Trinkst du Alkohol?“ Ich stehe in der Küche und mache Frühstück. Skeptisch begutäuge ich mein vor sich hin köchelndes Porridge, meine Augen sagen „Wehe, du brennst an“, dann wende ich mich zu Lev, einem dunkelhaarigen Russen mit Hipster-man-bun, der ungefähr meine Größe hat. „Ja, schon.“, antworte ich. „Warum?“ – „Super. Es trinken hier nicht viele Leute.“ – „Doch, eigentlich schon.“, mischt sich ein Mädchen ein, das im blauen Kuschelstrampler auf der Heizung sitzt. Lev winkt ab. „Aber nicht richtig. Ich bin hier der Wohnheim-Alkoholiker, ich kämpfe allein an vorderster Partyfront.“ – „Ich kann versuchen, dich da zu unterstützen.“, sage ich und versuche fluchend, mein Essen umzurühren. Es klebt. Ich mache den Herd aus.
Ein paar Stunden später treffe ich Lev wieder in der Küche, er sitzt dort mit einem Freund vor einem Glas Bier, wortlos reicht er mir seinen Rucksack, aus dem ich mir eine Dose Heineken hervorwühle. „Wie lange bist du eigentlich hier?“, fragt er. „Bis Juli.“, sage ich. „Sechs Monate also. So eine kurze Zeit.. das reicht doch gar nicht, um zusammen betrunken zu sein.“ Er sieht ernsthaft besorgt aus. Ich nippe an meiner Dose. Wir trinken und erzählen ein bisschen vor uns hin. Nach dem zweiten Bier sagen die beiden, sie müssten gehen, sie träfen sich noch mit einem Freund in einer Bar, es sei schon spät. Sie wollten um elf da sein. Es ist elf. „Was ist das für eine Bar? Und wo?“, frage ich. „Sie nennt sich Klisch‘ – also Klischee – Metrostation Petrogradskaya.“ „Petrogradskaya?!“ „Petrogradskaya“ „Nein, Baltiskaya.“, korrigiert der Freund, dessen Namen ich vergessen habe. „Baltiskaya?!“ Ich bin verwirrt. Es entbrennt ein Streit. Lev ruft Igor an. Er flucht viel. „Baltiskaya“, sagt er schlussendlich. „Ich komme mit.“, sage ich. „400 Rubel Eintritt.“ „Kein Problem.“
In der Metro ist es laut, dafür sind nur wenig Menschen unterwegs. Lev holt eine halbleere 1,5l Flasche Bier aus seiner Tasche. „Das ist illegal“, sage ich. „Hier ist niemand“, ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck Bier. Levs Freund trinkt. Lev trinkt. Dann zaubert jemand eine Packung Suchariki hervor, Käsegeschmack. Bier und Chips in der Ubahn, fast wie Zuhause in Berlin. Dann stellt sich ein alter, runtergekommener Mann neben uns. Als Lev und sein Freund beginnen, sich vorzustellen, platzt die Illusion von Heimat. „Möchten Sie ein bisschen Suchariki?“ „Klar, gerne.“ seine dreckige Pranke verschwindet in der Tüte. Ich mache mir eine mentale Notiz, die restlichen Chips abzulehnen. Es entspinnt sich ein Dialog, den ich nicht verstehe, also versinke ich in meinen Gedanken, bis der mysteriöse Mann aussteigt und uns zurücklässt. „Wir mussten das tun, verstehst du.“, klärt Lev mich auf. „Sonst hätte er uns verprügelt.“ „Oder irgendetwas anderes“, fügt sein Freund hinzu. Warum nur kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern? „Warum das denn?“ „Das hier ist Russland. Die Leute sind so.“ „Ich glaube euch kein Wort.“ „Du wirst schon sehen. Die Leute hier sind gefährlich, wenn du ihnen nicht passt, aber wenn du mit ihnen redest, ist alles in Ordnung.“ Ich nicke verständnislos.
Draußen empfängt uns kalte Dunkelheit. Leise fallen ein paar Schneeflocken zu Boden. Ich friere und schlage mir die Kapuze über den Kopf, dann wird mir klar, dass ich dringend auf Toilette muss. „Ist es weit bis zur Bar?“ – „Nein, nein. Nur hier runter, über den Kanal, dann gleich dadrüben.“ – „Bist du bereit für extreme russische Erlebnisse?“ – „Was, wieso, ja?“ – „Ahhhh!“, schreit Lev und wir rennen los über die Straße und springen über einen Zaun auf den Gehweg auf der anderen Seite. Seufzend zeige ich mit meinem Daumen nach rechts. „Weißt du, dort ist ein normaler Bürgersteig auf der Brücke, den man normal über eine Ampel hätte erreichen können, wenn man sich vorher umgeschaut hätte.“, sage ich. „Ups“, sagt Lev und zuckt mit den Schultern. Ich seufze noch mal. „Wo lang jetzt?“ „Links.“ „Oder rechts?“ „Nein, links.“ „Ich bin nicht sicher.“ „Ich muss auf Toilette.“ „Warte.“ „Wir fragen diese Leute.“ uns kommt eine betrunkene, schlampig gekleidete Frau in Begleitung entgegen. Sie gestikuliert wild und flucht viel. Schließlich können wir die Informationen, die sie uns gibt, verwerten in ein „hier links und dann die übernächste Kreuzung rechts runter“. Wir irren noch ein bisschen durch den Schnee und die Nacht. Die Straßen sind fast leer. Es könnte still und angenehm erfrischend sein, wenn meine Blase nicht so drücken würde.
Bevor wir die Bar betreten, laufen wir drei mal aus Versehen dran vorbei. Aber dann dröhnt uns laute 90er Rockmusik entgegen, ein Freund begrüßt uns, ich verschwinde kurz nach hinten, es ist ein lauter, bierseeliger Abend. Leute moshen auf der Tanzfläche, zwischendurch verstummt die Musik, damit der DJ irgendwelche Fragen stellen kann. Ich tanze eng mit Igor, wir drehen uns im Kreis, ich muss fast kotzen und bin verwirrt, ich weiß nicht, wie spät es ist, weil ich mein Handy zu Hause liegengelassen habe, aber ich denke, ich möchte gehen. Alleine darf ich nicht – eine Frau, so jung, nicht mal Russin, allein im Taxi, nein, nein, du wirst garantiert entführt – also kommen sie alle mit, Lev, der Freund, und Igor, obwohl nur Lev und ich in Obukhovo wohnen. Letztere beiden werden auch nicht mehr vom Securitymenschen ins Wohnheim eingelassen, also brechen wir in das offenstehende Haus gegenüberein und erkunden dessen Keller. Irgendwann werden wir mit einem grünen Laserpointerlicht angeleuchtet. „Oh Gott.“, sage ich. „Entschuldigung, Entschuldigung!“, versichert Lev. Igor schaut entsetzt. Der Freund ist zu betrunken, um irgendetwas zur Konversation beizutragen.
Wir freunden uns mit dem Menschen hinter dem Laserpointer an. Er heißt Andrej und wohnt im Keller des Hauses. Er kann nicht vom Staat registriert werden, hat seinen Job verloren und sich deswegen ein Bett dort eingerichtet. Um ehrlich zu sein sieht sein Zimmer fast gemütlicher aus als meins. Während er uns seine Geschichte erzählt, füllen Rauchschwaden die Luft. „Eigentlich“, sagt er, „eigentlich hätte ich nur gerne mal wieder ein Bier.“, woraufhin Lev ihn freundschaftlich am Arm packt und nach draußen begleitet. Zu viert verschwinden sie, um Andrej eine kleine Freude zu bereiten. Ich gehe zurück ins Wohnheim. Igor erzählt mir, es sei fünf Uhr. Zeit, ins Bett zu gehen.
In meinem Zimmer erwartet mich Licht. Ich bin zu betrunken, um verwundert zu sein, dann erblicke ich Nastja, die mit ihrem Freund im Bett liegt. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott – ich habe nichts gesehen, überhaupt nichts, ahh!“, rufe ich und verdecke meine Augen mit meinem Ellenbogen. „Alles in Ordnung“, versichert mir Nastja, und die beiden verschwinden. Ich schlafe direkt kompromisslos ein. Vorher schaue ich noch auf mein Handy: keine neuen Nachrichten.
Am nächsten Tag finde ich beim Frühstück meine komplett dreckige Jacke in der Küche, außerdem eine kleine Ansammlung verschiedenster Kratzer auf meiner linken Hand, und keine Erinnerung daran, was ich gestern morgen noch in der Küche gemacht habe, bevor ich zu Bett gegangen bin. Außerdem finde ich Lev, der etwas zerstört mit einem alten Pink Floyd Shirt auf einem der kleinen, roten Hocker sitzt. „Ich sollte eigentlich um eins zu einer Besichtigung gehen.“, informiert er mich. „Was für eine Besichtigung?“ – „Ein bisschen Sehenswürdigkeiten herumzeigen, dies und das.“ – „Ja und?“ – „Es ist jetzt vier. Ich sitze immer noch hier in der Küche.“ – „Oh.. Na ja, nicht so schlimm. Hier ist es auch schön.“ Währenddessen verschütte ich bei dem Versuch, meine Pressstempelkanne zu benutzen die Hälfte meines Kaffees. „Ahh, verdammt!“, fluche ich. Zu den Kratzern auf der Hand gesellt sich jetzt noch eine Brandverletzung hinzu. Mürrisch nehme ich Kanne und Kaffee in mein Zimmer. Ich nippe ein bisschen an meiner Tasse, dann schlafe ich ein. Es ist aber auch wirklich noch zu früh zum nachdenken.

Reisezeiten

In Russland sind die Autos dreckiger. Das ist das erste, was auffällt, wenn man hier die Straße rauf und runter schaut. Es sind auch mehr Menschen unterwegs. Als ich mit meinem überdimensional großen Koffer aus der Metro aussteigen wollte, blickte mir auf der anderen Seite der Tür ein Schild entgegen „Der nächste Ausgang ist nebenan!“ stand dort drauf, und eine Mauer. Nebenan, da kommt man aber leider nicht hin, wenn der Gang voller Menschen ist und der Koffer schwer und unhandlich. Also bin ich eine Station weitergefahren. Und dann wieder zurück. Auch hätte ich fast meinen Flug verpasst, weil in Schönefeld Zustände herrschten, als wäre heute die allerletzte Möglichkeit noch zu verreisen. Aber die Hälfte der Passagiere hatte sich verspätet, also wartete das Flugzeug. Und dann, ja, dann sind da noch meine Sitznachbarn. Sie Ukrainerin, er Deutscher, zur Besuch bei Familie in Sankt Petersburg, Sylvester feiern. Ihre Tradition: bei jedem Flug Wodka trinken. Wodka hatten sie leider nicht an Bord, es hätten sich im Laufe der Zeit zu viele Leute damit abgeschossen. Also musste Bier her. Und weil ich nunmal nebenan saß, quasi zur Familie gehörte, zum erlesenen Kreis, musste ich auch trinken.
So spät am Flughafen war ich übrigens nur, weil ich noch Kaffee kaufen musste auf dem Weg dorthin, und in der Sbahn gemerkt habe, dass ich meine Schlüssel vergessen hatte in meiner Tasche.
Aber als ich dann in Veras Wohnung saß, eine Tasse schwarzen Tee in der Hand, auf dem zehn Zentimeter Durchmesser umfassenden Röhrenfernseher laeuft The Big Bang Theory in russisch synchronisierter Version und draußen glitzern die letzten Reste halb geschmolzenen Schnees traurig in der Dunkelheit, da wusste ich: ich bin angekommen. Alles wird gut.
Wenn es Tee gibt, dann ist alles in Ordnung.