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Sleep is for the weak

„You know what, I feel really happy. Not just on the outside, but really, completely, sincerely, genuinely happy. Like the shadow inside my head is gone for a while.“ „Well, in America we have a word for that.“ „Which is?“ „Drunk!“

Aber das ist nicht wahr, ich fühle mich nicht betrunken. Okay, gut, in dem Moment, in dem ich das sagte, war ich betrunken. Aber ich dachte es auch am Tag danach. Und am Tag danach. Ich denke es fast jeden Tag, wenn ich im Sonnenschein zur Arbeit gehe. Mir geht es hier wirklich gut und zum ersten Mal in meinem Leben bin ich das, was man wohl im Allgemeinen zufrieden nennt.

Geschlüpft ist der Gedanke auf Chilääns Abschiedsrunde. Er schrieb „Um Acht in der Bar.“ dann schrieb er „Ich bringe noch wen mit.“ und dann „Ich rufe dich an, wenn ich losgehe.“ Bis Acht hatte niemand angerufen. Um halb Neun schrieb ich ihm eine SMS. Um Neun bekam ich die Nachricht, er sei jetzt unterwegs. Also setzte auch ich mich in Bewegung. In der Bar traf ich unerwartet auf Ami, der anscheinend die Begleitung darstellte, doch von Chilään keine Spur. Es stellte sich heraus, dass Ami seit c.a. anderthalb Stunden auf uns wartete, während sich Chilään fröhlich verspätete und ich Zuhause auf Neuigkeiten wartete. Na ja. Happens. Der Abend an sich verlief bierlastig, als ich an den Punkt kam, an dem ich mich ziemlich betrunken und fertig fühlte und bereit war zu gehen, lernten wir plötzlich die netten Russen vom Nebentisch kennen und ich sah mich dazu gezwungen, mit ihnen eine weitere Runde zu trinken. Wir verließen die Bar dann auf Aufforderung des Personals, закрываемся, wir schließen. Ups.

Samstag war auch so ein Abend. Ich war erst arbeiten, weil wir zu irgendeinem Event geladen wurden, auf welchem zwei meiner Mitvolontärinnen und ich dann gefragt wurden, ob wir Griechen seien. Klar. Jedenfalls wurden die Andere Neue und ich zum Essen eingeladen von ein paar Couchsurfing Leuten. Ich erwartete so fünf Personen. Wir waren c.a 25 und okkupierten das gesamte Restaurant. Es gab Hot Pot und ich habe mit Stäbchen gegessen und nach 30-minütigem Kampf hat es auch irgendwann geklappt, aber ich habe noch nie so lange gebraucht, um satt zu werden. Nach dem Essen verabschiedete sich die Andere Neue. Ich wollte eigentlich auch gehen, ließ mich aber „auf ein Bier um die Ecke“ überreden, schließlich waren wir nicht weit von meinem Haus entfernt. Aus einem Bier wurden zwei, auf einmal gab es Shots und als es dann hieß was nun? war ich plötzlich mit einem Russen, dessen Namen ich nicht wusste und einem in New York lebenden Chinesen, dessen Namen ich auch nicht wusste, der für mich einfach nur „der mit der verrückten Kokain-Story“ war, in einem schäbigen Hotel irgendwo im Zentrum der Stadt. Die verrückte Kokain-Story erklärt sich folgendermaßen: er vermietet im großen Stil Wohnungen über airbnb. In einer dieser Wohnungen lebte bis vor kurzem ein Mädchen, das auf einmal krass koksabhängig wurde, ein Loch in die Wand schlug, versuchte, vom Dach zu springen und dann ins Krankenhaus geliefert wurde. Sie wurde aus offensichtlichen Gründen rausgeschmissen. Das mit dem Hotel erklärt sich durch die Story: der Hong-Kong-Mann wollte mit dem Freund des Kokainmädchens telefonieren und die Geschichte klären. Derweil tranken der unbekannte Russe und ich seinen Alkoholvorrat aus. Wir wollten dann Freunde vom Hong-Kong-Mann in einer Bar treffen. Es stellte sich heraus, dass das auch meine Freunde waren. Ferner stellte sich heraus, dass die Bar zu voll war und wir deshalb nicht mehr eintreten konnten. Es war zwei Uhr morgens, wir wurden zum Salsa eingeladen und gingen dann doch weiter in einen Club. Dort trafen wir allerlei Proletariat, unter Anderem einen Typen aus Deutschland. Diese Deutschen, die sind aber auch wirklich überall. Kurzum, nach mehreren Stunden netter Unterhaltung und schwitzigen Tänzen zu schrecklicher Musik war ich dann so gegen Sieben im Bett. Guten Morgen.

Sonntag dachte ich dann: ich schlafe aus und dann lerne ich ein bisschen, aber im Endeffekt war ich mit der Anderen Neuen shoppen. Ich habe ein Kleid gekauft, ich liebe es, es ist warm, gemütlich und wunderschön. Am Montag habe ich mir einen Block gekauft, mich an die Neva gesetzt, meine Jacke ausgezogen, die Sonne genossen und gezeichnet. Entspanntes Leben, entspannte Freizeitbeschäftigungen. Auch entspannt: mein langersehnter Besuch ist endlich da. Kommunikationstechnisch gab es einiges Hin- und Her und ich habe bereits jetzt mein ganzes Guthaben verbraucht. Aber das macht nichts. Donnerstag gehen wir wieder mal ins Theater, diesmal gibt es Schwanensee. Aufregend. Samstag bin ich eingeladen, um klassische litauische Tänze zu lernen. Посмотрим. Wir werden sehen.

Einmal Ja und zurück.

Das war also mein letzter Schultag. Wow. Ich bin ja ein bisschen überwältigt. Das ging jetzt doch alles ziemlich schnell. Ich hatte das zwar erwartet, aber wie schnell war dann doch etwas atemberaubend. Und es ist wahnsinnig viel passiert. In den letzten Tagen war ich dann auch unglaublich viel unterwegs und ich habe endlich meine Challenge erfüllt: mich mit den Briten zu betrinken. Gestern war nämlich St. Patrick’s Day und anlässlich dessen sind wir nach der Schule erst mal zum Lunch gegangen. Um zwei hatte ich dann mein erstes Bier getrunken. Also weiter in eine irische Bar, O’Hooligans, Fahnen, Luftballons und irische Hüte. Mehr Bier. Und Never Have I Ever. Aber wir konnten nicht bleiben, weil unser Tisch reserviert war, also auf in die nächste Bar. Und noch mehr Bier. Nun ist donnerstags aber auch immer Couchsurfing, also habe ich mich irgendwann verabschiedet und wollte mich mit dem Ami an der Metro treffen. Als ich aus der Tür trat fing es plötzlich an wie blöd zu schneien und zu regnen. Ich versuche also, angetrunken und vollkommen blind den Weg zur c.a. 1,5km entfernten Metrostation zu finden und brauche 40 Minuten. Na ja, passiert. Beim Couchsurfing dann noch mehr Bier, Salat und Pommes. Das Café schließt um elf, also wollte ich mit ein paar Leuten noch weiterziehen. 20 Minuten Fußweg. Ne doch nicht. Ami und ich verabschieden uns von den andern. Ich frage mich ja wirklich.. na ja, egal. Als ich zuhause ankam jedenfalls, hatte meine Gastfrau besuch, also gab’s noch ein Glas Sekt. Um eins war ich dann im Bett. Elf Stunden Suff und am nächsten Tag Schule. Wir waren dann auch nur zu zweit in der Klasse, aber hey. Es war auch alles ein bisschen emotional heute, war ja immerhin mein letzter Tag, also gab’s nach dem Unterricht auch eine kleine Abschiedsparty, mit Rede, Champagner und allem drum und dran. Ich habe sogar ein Zeugnis bekommen, siehe oben. Im Anschluss war ich mit den Britinnen 1 & 2 im Museum, wo wir noch einen anderen Briten getroffen haben. Zu viele Briten. Heute war ein wunderschöner Tag, der erste Tag, an dem sich Piter wettertechnisch von seiner bezaubernden Seite gezeigt hat. Als ich zur Schule fuhr, war die Neva exakt zur Hälfte gefroren, als ich nach Hause fuhr schwamm Eis darin – es sah atemberaubend aus, dazu dieser strahlend blaue Himmel, Sonnenschein, wow.
Heute war auch wieder Hockey – und ich habe mein erstes Tor gemacht. Yay! Was für ein Moment! Und Mittwoch war ich mit Ami in der Eremitage. Wir haben uns erst mal verlaufen. Aber macht ja nichts, dafür ist sie ja auch da, dafür ist sie so riesig. Ist ja kuschelig.
What is more: ein bisschen Gefühlsduseligkeit. Wenn ich so den ganzen Tag rumhänge und ausschließlich Russisch oder Englisch spreche, ist es schwierig bis unmöglich aufzuhören, auf Englisch zu denken. Dann gehe ich mir selber auf die Nerven, weil ich nicht dazu in der Lage bin, meine Gedanken exakt so auszudrücken, wie ich das jetzt gerne möchte und nicht zurück ins Deutsche wechseln kann. Even more: Sich gewählt ausdrücken zu können ist. so. verdammt. attraktiv.
Das war’s erst mal. Verwirrter Beitrag aus einem verwirrten Seelenleben.

P.S.: ich habe mein Zugticket nach Moskau und mein Flugticket nach Sochi gebucht. Shit is about to get real, man.

Vom Fluchen und Fauchen und Reisen

„Sie reist quer durch die Welt, wenn’s sein muss mit ’nem Floß, aber Kassel ist zu weit.“

Mit diesem Vorwurf konfrontierte mich gestern ein Freund (hallo, Freund.). Und irgendwie hat er ja Recht. Man macht immer Urlaubsplanung, fährt hierhin, fährt dorthin (wenn man es denn mal tatsächlich tut), aber man macht so selten Pläne, um einfach nur seine Freunde zu besuchen. Sobald man einen Partner hat irgendwo weiter weg findet man auf einmal unglaublich viel Zeit, um durch die Weltgeschichte zu gurken, aber ich habe zwei Jahre gebraucht, um einmal nach Heilbronn zu fahren. Und nach fast zwei Jahren war ich auch immer noch nicht in Kassel. Eine kleine Schande. Ich plädoyiere für mehr Freundschaftsbesuche. Ich plädoyiere dafür, öfters absichtlich zu Konzerten weiter weg zu fahren, um seine Freunde zu besuchen. Und ich gestehe meine eigene Schande. Das war der erste Punkt des Tages.
Der zweite Punkt ist folgender: von „Darf ich mal deine Wangenknochen anfassen?“ bis „Ich mag genau diese eine Kurve da“ hab ich schon vieles über meinen Körper gehört. Doch dass mich jemand ausgerechnet wegen eines Muttermals am Hals attraktiv finden könnte, war mir dann doch neu. Gut, aber warum wundert mich das eigentlich? Weil ich immer dachte, das mit den Wangenknochen ist irgendwie unübertrefflich. Das war immer mein Liebling an merkwürdigen Komplimenten, aber ich glaube, es wurde damit abgelöst. Ich stelle mir gerade vor, wie jemand einen stark ausgeprägten Muttermal-Fetisch hat und der dann richtig enttäuscht ist von mir. So nach dem Motto „Oh Gott, das sah so vielversprechend aus!“ und dann kommt die nüchterne Erkenntnis, dass dieses „Attraktivitäts“-Merkmal komplett an mir vorbeigegangen ist.
Der dritte Punkt ist, dass ich herausfinden muss, warum ich in Russland so wahnsinnig schnell betrunken werde. Ich war Montag mit dem Chilään und Ami in einer Bar und nach drei Bier musste ich nach Hause gefahren werden. Drei Bier! Das ist doch nichts. Ich war in meinem Leben nicht so oft hintereinander betrunken wie in diesen zwei einhalb Wochen, die ich jetzt hier bin. Deswegen habe ich mir vorgenommen, diese Woche nüchtern zu bleiben. Auch wenn wir Chilääns letzten Monat in Russland mit Allem feiern müssen, was uns zur Verfügung steht (und wir haben Montag schon besiegelt, dass wir jetzt alle beste Freunde sind), man muss auch mal pausieren.
Punkt vier ist eine kurze Filmrezension. Ich habe meinen produktiven Katertag gestern mit einem Film ausklingen lassen und nach dem soviele Leute davon geredet haben, entschied ich mich für Whiplash. Er war langweilig und vorhersehbar von der ersten Minute an, aber immerhin nicht langweilig genug um ihn auszuschalten. Ich meine, ernsthaft? Hätte man mich nach fünf Minuten gefragt, wie der Film ausgeht, ich hätte genau das geantwortet. Es ist als würden die Charaktere mit ihren Redebeiträgen kontinuierlich selbst den Film spoilern. Ich hab es dem Ami erzählt und er hat mich für verrückt erklärt, aber dann hat er mir erzählt, dass er überlegt hatte, mich bei unserem ersten Aufeinandertreffen nicht „hey, wie heißt du?“ sondern „Glaubst du, dass du auf eine verrückte Art sterben wirst? Du siehst nämlich aus wie eine Person, die auf eine verrückte Art sterben wird“ zu fragen und ich habe seinem Urteil ein bisschen weniger Wert beigemessen. Was mir jedoch wirklich an Whiplash gefallen hat war die Szene, in der er diesen einen Typen aus seinem Orchester rauswirft mit den Worten „Verschwinde, sonst vernichte ich dich“. Ich versuche das ab jetzt öfter in meinen Sprachgebrauch einfließen zu lassen.
Also verschwinde. Sonst vernichte ich dich.

Manfred&Ich

Seit kurzem habe ich ein neues Haustier. Es ist ein großer, grauer Elephant. Lieblingsplatz ist zweifelsfrei auf meiner Brust, und ich habe ihn immer bei mir.  Kritiker würden sagen „Das ist doch überhaupt nicht real!“, aber ich spüre ihn ganz deutlich, so deutlich, wie man einen Elephanten eben spüren kann. Wir haben uns miteinander arrangiert, Manfred und ich.  (Dinge werden für gewöhnlich leichter, wenn man ihnen einen Namen gibt. Noch bin ich davon nicht so ganz überzeugt, aber es schadet schließlich nicht, es einmal zu versuchen)

Unser Deal besteht darin, dass er mich die Dinge tun lässt, die man eben so tut, wenn man im Leben mehr oder weniger aktiv ist: Uni. Arbeit. Einkaufen. Waschen – sowas.  Im Gegenzug dazu lasse ich ihn eben da, wo er ist, wenn ich gerade sonst nichts tun muss.
Aber Manfred ist stur, manchmal bleibt er einfach trotzdem sitzen, obwohl ich ihn dann anflehe, von mir herunter zu gehen, damit ich aufstehen kann. Dann ist es wirklich schwer, mit ihm zu argumentieren und von alleine wegschieben kann ich ihn nicht.

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was der Gute von mir will. Irgendwann stand er einfach ungefragt vor meiner Tür, groß und dickhäutig, wie Elephanten nun mal sind. Ich war erstmal sprachlos (wer wäre das nicht?) und Manfred nutzte den günstigen Moment, um sich an mir vorbei in die Wohnung zu quetschen. Er trötete einmal fröhlich, wie um zu sagen „hier bleibe ich!“ und machte es sich bequem. Anfangs saß er nur auf meinem Sofa, was mich schon ausreichend beunruhigte, aber mit der Zeit kam er immer näher, bis er schließlich seinen Platz auf meiner Brust fand.
Er äußert sich nicht großartig zu seinem Verhalten. Er ist einfach da.

Manchmal kann ich gar nicht an ihm vorbeiblicken, so dicht sitzt er vor meinem Gesicht. Einmal habe ich versucht, ein ernstes Wörtchen mit ihm zu reden: „Manfred“, sagte ich, „so geht das nicht. Du kannst nicht einfach so in mein Leben spazieren und dich auf mich draufsetzen. Sei bitte nicht beleidigt – das ist nichts Persönliches  – aber wie würdest du dich fühlen, wenn ich mich einfach auf dich draufsetzte?

Manfred trötete abfällig. „Was für ein lächerlicher Vergleich“, hieß das wahrscheinlich. Er reagierte, indem er seine Sitzmuskeln in eine bequemere Position brachte, zeigte sich von meiner Rede aber ansonsten unbeeindruckt.

„Nun – wenn du nicht gehst, dann gehe ich eben!“, rief ich. Ich erntete einen skeptischen Blick. Dann stand Manfred auf .. und ließ sich mit voller Wucht wieder auf mich fallen. Eine Woche konnte ich mich nicht bewegen.

Ich gab auf. Ich konnte nichts machen. Irgendwann hatte ich die Kraft dazu, unser kleines Arrangement auszuhandeln, und dabei blieb es.

Ich lebe mit Manfred. Es ist nicht leicht (nichts ist leicht, wenn ein mehrere Tonnen schwerer Dickhäuter auf dir sitzt), aber ich lebe. Vielleicht geht er wieder von alleine nach hause und wir können uns im Guten voneinander trennen, vielleicht aber auch nicht. Wer weiß das schon?

Solange er da ist, werde ich versuchen, damit klar zu kommen, und, wer weiß? Vielleicht kommt irgendwann jemand und hilft mir, ihn weg zu schieben. Bis dahin bleibt mir nicht viel anderes übrig, als mir Stück für Stück mehr Freiheiten auszuhandeln. Vielleicht können wir dann ja irgendwann glücklich miteinander werden, Manfred und ich.

#Titellos

Weil, eigentlich soll das irgendwann noch weitergehen. Aber vielleicht ist es dafür doch schon zu persönlich geworden.

#1_________________________________________________________

An besonders einsamen Tagen sitze ich in meinem Bett in Berlin und starre auf die Kondensstreifen, die die Flugzeuge am Himmel hinterlassen.
„Weg, weg, weg!“, flüstere ich und kneife dabei die Augen zu. Als würde das etwas bringen.
Wenn ich ehrlich bin, ist jeder Tag ein besonders einsamer Tag. Man stelle sich nur dieses Bild vor: eine etwas zu groß geratene 18-jährige sitzt in ihrem dunklen Zimmer und starrt und wünscht und weint wie ein kleines Mädchen.
Nun, wenn einem alles genommen wird, dann bleibt einem auch nicht mehr viel. Irgendwann endet man so, man wird nicht so geboren, man wird einfach in dieses Leben hineingeschubst, ohne, dass man etwas dagegen tun könnte, und dann rutscht man. Wenn jemand rutscht, dann denkt man immer, dass sich schon irgendetwas zum bremsen finden wird, wenn man nur gut genug danach sucht, aber dem ist nicht so. Ich habe es gesehen. Wenn du erst mal anfängst zu rutschen, hält nichts dich auf, außer dem Baum, gegen den du knallst.
Ich versuche diesen Gedanken fortzuscheuchen. Einfach ist das nicht. Mein Blick wandert wieder zum Himmel, der langsam zu verblassen droht. Ich hasse die Dämmerung, es ist die traurigste Stunde des Tages und Traurigkeit besitze ich selbst zur genüge. Ich verstehe nicht, wie man es mögen kann, dieses Biest, das dir die Helligkeit nur noch vorgaukelt, obwohl es schon längst dabei ist, die letzten Tropfen Tageslicht aufzusaugen und die Welt mit ihrem Mantel aus Nacht und Dunkelheit zu erdrücken. Nicht, dass ich Angst hätte vor der Schwärze. Ich habe auch keine Angst vor den Gestalten, die die Nacht hervorbringt. Wovor ich mich fürchte, ist die Schwärze in mir drin, doch die ist immer da, unabhängig von der Tageszeit, und da kann niemand etwas dran ändern.
Mein Therapeut sagt, in mir kämpfen die guten gegen die bösen Kräfte und ich finde, das klingt, wie aus einem schlechten Buch geklaut. Mein Therapeut sagt auch, Suizid während der Therapie sei verboten. Ich habe ihm vorsichtshalber nicht erzählt, dass ich gedacht habe, dass mir das doch egal sein könne, wenn ich schon tot sei. Ehrlich gesagt bin ich auch nicht ganz sicher, inwiefern er das ernst meinte.

„Es ist alles in deinem Kopf“, sage ich mir. „Die guten wie die schlechten Dinge. Du kannst sie hervorrufen, wenn du willst. Du musst nur deine Augen schließen und ein bisschen träumen.“ Ja, tatsächlich, die war noch mit mir, meine Fantasie. Man kann jemanden so weit brechen, dass er keine Fantasie mehr besitzt. Mit mir ist das zum Glück noch nicht geschehen und so habe ich wenigstens etwas, das mich ablenkt, auch ohne die Hilfe von kleinen Glückstütchen.
„Bitte, bitte, liebes Hirn“ – ich versuche es sanft zu stimmen, denn es entführt mich nur allzu leicht in eher düstere Welten – „schick mich zurück nach Malmö!“

Ich versuchte, mich im Schlaf umzudrehen, aber das gestaltete sich als unaussprechlich schwierig. Mike und ich hatten, intelligent, wie wir nun mal waren, unser Zelt an einem Hang aufgebaut, in Folge dessen ich schräg lag. „Macht nichts“, dachte ich, „wenn du gleich wieder einschläfst, ist dir das egal.“ Ich dachte auch, dass mir ein bisschen kalt war, weswegen ich versuchte, mich näher an meinen Freund zu kuscheln.
Ich rutschte ein Stück nach unten, robbte wieder hoch, wiederholte mein Vorhaben, rutschte wieder runter und beließ es bei diesem Versuch. Was auch nicht weiter schlimm war, denn obwohl ich fror und doch sehr ungemütlich lag, war ich so müde, dass ich direkt wieder einschlief.
Als ich das nächste Mal aufwachte, tat ich es davon, dass ich schwitzte. Wie üblich in Zelten, in der Nacht ist es eiskalt, aber sobald die Sonne ihre Fühler ausstreckt, wirst du gekocht. Mike schien es nicht anders zu ergehen, denn er schaute ganz unglücklich drein und als ich sah, dass das Zelt inzwischen von einigen krabbelnden und fliegenden Mitbewohnern unserer Erde in Beschlag genommen wurde, stürmte ich ins Freie. Wir räumten unsere Behausung aus, taten unser Möglichstes, deren neue Bewohner zu verscheuchen und packten alles wieder zusammen. Dann setzten wir uns auf einen der Stege, die hier so zahlreich in die Ostsee ragten, schauten uns die Brücke nach Dänemark an, die Sonne, das Meer und die Menschen, die so verrückt waren, um sieben Uhr morgens ins kalte Wasser zu steigen.  Denn das war das Beste an unserem Schlafplatz: dass wir hinter einem Hügel auf einer Wiese gezeltet hatten, die sich am Ufer entlang ausbreitete.
„Ich glaube, ich will ein bisschen spazieren gehen. Ich bringe Kaffee mit, okay? Bin gleich wieder da!“, sagte ich zu Mike, der gerade noch dabei war, seine Scheibe köstlichstes dänisches Brot in wesentlich weniger köstlichen dänischen Frischkäse zu tunken. Er nickte nur. Was hätte er auch anderes tun sollen?  Schließlich war sein Mund voll Gebäck.
Ach ja.. diesen Teil der Geschichte hatte ich vergessen. „Halt, Hirn! Aufhören! Ich will nicht Kaffee holen gehen. Ich weiß, wie das endet: auf dem Rückweg verlaufe ich mich, weil ich denke, ich bin cool und ich will nicht den selben Weg gehen, den ich gekommen bin, ich will lieber am Wasser entlang gehen. Ich werde drei Stunden brauchen, bis ich wieder da bin und dabei mehr als einmal verzweifelt auf irgendeiner Halbinsel hocken, weil Malmö nur eine einzige Brücke hat. Ich werde hundertmal versuchen, Mike anzurufen und er wird nicht drangehen und ich werde heulen und mit dem Gedanken spielen, mich ins Wasser zu werfen und zu schwimmen. Also stopp! Darauf kann ich verzichten, okay?“
Aber das Hirn hört nur selten auf einen, wenn man auf es einredet, und deswegen ging ich natürlich Kaffee holen. Ich tat es nicht mal widerstrebend, ich tat es einfach, ich tat es, weil ich es tun musste, weil ich wusste, dass die Geschichte so weitergeht und ich erlebte all die Verzweiflung noch einmal.

Ich wache wieder auf und bin erst mal sauer. „So habe ich mir das nicht vorgestellt, du dumme Denkmaschine! Ich sagte, Ablenkung. Ich sagte, schön! Realitätsflucht, okay? Was bringt es mir, wenn ich von einer miesen Realität in einen noch mieseren Traum fliehe, hm? Was kannst du eigentlich?“
Es ist ziemlich müßig mit seinem eigenen Gehirn über dessen Funktionsweise zu diskutieren. Meistens verliert man, was auf der Hand liegt. Aber gerade ist mir das egal. Ich rede oft mit meinem Gehirn. Ich rede auch oft mit anderen Dingen. Menschen, die mich dabei beobachten, finden das komisch. Ich finde es komisch, dass mich Menschen dabei beobachten.
Ich fühle mich ein bisschen hilflos. Nachdenklich starre ich auf mein Handy. Soll ich, soll ich nicht? Ein Anruf, dann ein bisschen künstlicher Spaß und ein geruhsamer Schlaf. Eigentlich alles, was ich brauche. „Nein!“, sage ich mir, „Du bist stark! Du kannst das auch allein! Mit einer Menge Fantasie“ – vor meinen Augen sehe ich eine Kiste und einen Regenbogen – „ist alles möglich! Also gut, Hirn. Ich gebe dir eine zweite Chance. Großzügig von mir, nicht wahr? Und das, obwohl du mich so oft enttäuschst.“ Als ob ich eine andere Wahl hätte, füge ich in Gedanken hinzu. Aber nur in Gedanken, ich will ja nicht, dass Hirn hinterher wieder beleidigt ist. Nur, wo will ich diesmal hin? Was will ich sehen? Etwas Neues? Etwas Bekanntes? Etwas Ruhiges? Oder etwas Abenteuerliches? Nein, nichts Abenteuerliches, meine Abenteuer enden meistens ziemlich mies. Sie geben gute Geschichten ab, so wie alles, was mies endet, aber es ist nichts, was man unbedingt erneut erleben möchte. So wie das eine Mal, als ich an einer Felswand hing, auf einem Berg  in einigen hundert Metern Höhe, ungesichert, und unter mir ging es fast senkrecht in die Tiefe. Eine gute Geschichte, aber nichts, was ich unbedingt wiederholen möchte.
Meine Gedanken dümpeln so ein bisschen vor sich hin, bis mir einfällt, was ich will. Ja, wahrlich, das ist eine gute Idee.
Wieder schließe ich meine Augen und lasse mich von den Erinnerungen davon tragen.

„This one, size M, please.“, „Okay. Here’s your change.”, “Thank you!”. Beglückt schaue ich meine Neuerwerbung an: ein Tourshirt, Papa Roach, 2009, momentaner Standort: Berlin, Huxley’s neue Welt. Es war ein mühsamer Tag gewesen. Meine Freundin Renee und ich hatten uns früh aus dem Bett quälen müssen, weil Andreas, dessen klägliche Rolle in meinem Leben besser unbeachtet bleibt, zur Eile drängte. Ich hatte meine Haare frisch gefärbt, war beschwingt davon, einen Toilettendeckel kaputt gemacht zu haben dabei und davon, einen guten Freund wiedergesehen zu haben. Ja, dieses Wochenende war wirklich auf einem guten Wege. Und heute war endlich der Tag, auf den ich die ganze Zeit gewartet hatte. Das Konzert einer meiner Lieblingsbands, das zweite insgesamt, das ich überhaupt je besucht hatte. Ich war aufgeregt, natürlich. Vielleicht waren wir auch deswegen viel zu früh in Berlin, und es war nicht nur Sonntag, sondern auch noch Tag der deutschen Einheit, also hatten sämtliche Geschäfte gleich zwei Gründe, um geschlossen zu haben. So saßen wir also stundenlang vor dem Eingang der Konzerthalle. Was sich als äußerst positive Fügung des Schicksals erwies, denn plötzlich strömte ein Pulk von ungefähr fünf Menschen auf eine Stelle ein paar Meter hinter uns zu. „Da ist irgendwer famous. Da müssen wir hin!“, rief Renee aus und war schon auf den Beinen. Ich trottete hinterher. Und stellte fest, dass die Helden, wegen derer wir die lange Fahrt auf uns genommen hatten, plötzlich auf dem Parkplatz standen, Autogramme verteilten, Fotos mit sich machen ließen und Fans kuschelten. Dorthin schweiften meine Gedanken gerade ab, als ich das T-Shirt in Händen hielt, als mich eine Stimme rief. Ich ging auf sie zu und plötzlich stand neben mir jemand Fremdes. Und es war der wunderschönste Fremde, den ich je gesehen hatte. „Wow“, dachte ich, „den willst du. Du wirst ihn nie wieder sehen, aber den willst du.“ „Hast du mich gerade gerufen?“ „Nein, wieso?“ „Jemand hat gerade meinen Namen gerufen.“ „Ich wurde gerufen.“ „Bist du sicher?“ „Ja, hier. Das ist meine Freundin. Sie rief mich.“ „Aber ich heiße auch so.“ „Nein, ich heiße so.“ „Nein, ich!“ Wie lustig. Wie herzergreifend lustig. Da fährt man zu einem Konzert, hunderte Kilometer weit weg von Zuhause, man bewegt sich ein bisschen, geht verloren, wird gesucht und trifft dadurch jemanden, der genauso heißt, wie man selbst. Oh, hätte ich gewusst, wie diese Begegnung mein Leben verändern würde! Der Fremde stellte mir noch seine Freunde vor und dann begann bald das Konzert. Wie es der Zufall so wollte, schafften wir es jedes Mal, gemeinsam auf den Boden zu fallen. Wie es der Zufall so wollte, fühlte sich das wunderschön an. Als ich ihn fragte, wo er wohnte, hoffte ich auf etwas in meiner Nähe. „Berlin“, meinte er. „Mist“, dachte ich. Dennoch schrieb er mir seine Adresse auf den Arm. Mir war klar, dass wir trotzdem nie wieder miteinander reden würden. Doch wir taten es. Wir taten es viel. Und wir sahen uns. Oft. Und öfter. Und immer öfter. Und wir küssten uns. Und wir liebten uns. Sechs Monate liebten wir uns, so sehr, wie zwei Menschen sich nur lieben können, und dann trennten wir uns..
„Okay, das reicht. Du musst diese schöne Erinnerung nicht wieder kaputt machen, nur, weil du jetzt wieder das Ende vorweg nimmst, okay? Bis zu dem Punkt, wo wir draußen standen, Donuts aßen und Adressen austauschten, war es ein schöner Abend. Kompanie halt. Aufwachen! Aufwachen!“

Diesmal wache ich tatsächlich auf, aber ich zahle auch den Preis: der unschöne Nachgeschmack, den diese Gedanken immer wieder hinterlassen. „Vorwärts blicken, altes Haus.“, rede ich mir ein, aber ich war schon wieder traurig. Natürlich war ich traurig. „Wie oft sage ich dir, du sollst dich nicht in solchen Erinnerungen suhlen wie ein Schwein im Schlamm, natürlich sind sie schön, zu schön, aber sie alle enden bitter, und das weißt du.“ Darauf schweigt mein Gehirn erst mal. Es schweigt lange. Es schweigt so lange, bis ich einfach einschlafe, weil mir das ganze Geschweige zu anstrengend wird.