MonatFebruar 2017

Und so weiter

Ich habe Kopfschmerzen – und Hunger – permanent Hunger. Ich könnte essen und essen, Unmengen an Nahrung verschlingen, alles in mich reinschütten, eine menschgewordene Raupe Nimmersatt. Egal, was ich tue, das Signal ‚es reicht!‘ will einfach nicht kommen, ein Befriedigungsgefühl stellt sich nicht ein. Warum ist das so? Was ist nur los mit mir?

Ich kam zurück nach Sankt Petersburg auf der Suche nach meinem liegengelassenen Glück, und was ich gefunden habe ist ein lose zusammengekehrter Rest verwirrter Gefühle. Ich bin ein Laubhaufen im Wind, den es mal hierhin, mal dorthin weht, dem es im Prinzip egal ist, wo er liegt, der nur frei ist, wenn er in Bewegung ist. Ich vermisse nichts und niemanden, mit Ausnahme vielleicht von David, aber den ziemlich extrem. Als ich Freitag an der Admiraltejskaya ausstieg und die vertraute Umgebung sah, da dachte ich „Und wenn du jetzt nach rechts blickst, dann kannst du ihn da stehen sehen, wie er auf dich wartet, so wie immer, wenn du hier warst.“, ich ging aus der Tür und habe nicht nach rechts geschaut, bloß nicht in die Richtung, bloß nicht in die Ecke, in der er immer stand, diese Erinnerung hat mich fast zerdrückt.

Alles ist Warten, Warten, dass was passiert, Warten, dass sich diese Gefühle ändern, Warten, auf die eine Nachricht, Warten, dass man irgendwann stirbt, dass Zeit vergeht.

Ich weiß doch nicht wohin mit mir, weiß doch nicht, was ich tun soll. Bin doch nicht wichtig, nur ein Mensch. Was macht es schon? Ich suche nur mein Stück vom Kuchen, aber ich fürchte, du hast es grad gegessen. Jetzt muss ich warten, bis sie neuen machen. Und warten, warten, warten.

Licht und Alkohol

Little boxes on the hillside
Little boxes made of ticky-tacky little boxes

20.30 Uhr in Berlin. 22.30 Uhr in Sankt Petersburg. 11.30 Uhr in Los Angeles.

„Wie war der Spaziergang?“ – „Gut, ein bisschen kalt.“ – „Es schneit draußen.“ – „Ja. Ich gehe mal kurz was essen.“, und macht dabei eine Handbewegung, als würde sie sich gerade etwas in den Mund schaufeln, dann verschwindet Nastja aus der Tür. Ich bleibe zurück in meinem, unseren Zimmer. Der Versuch, eine Skizze über das Startverhalten von Flugzeugen, angefertigt von meinem Mitbewohner in Berlin, an die Wand zu bringen, scheitert. Auf der lachs-beige-braun gestreiften Tapete bleibt kein grünes Klebeband haften. Ich fahre die einzelnen Linien mit meinem Finger nach, aber zu lange an die Wand zu starren bereitet mir Kopfschmerzen, also wende ich den Blick wieder zurück auf den Bildschirm. Ich trinke einen Schluck Wasser, mache mir einen Zopf und seufze. Ich seufze viel in letzter Zeit. Meine Haare sind lang geworden. Vieles ist irgendwie ein bisschen anders.

In der Küche ist Licht und man hört Stimmen. Eigentlich ist in der Küche fast immer Licht und man hört Stimmen. Langsam öffne ich die Tür und stelle meinen Rucksack mit den Einkäufen auf den Tisch. „Wie kannst du einkaufen gehen?“, werde ich von der Seite gefragt. Ich antworte mit einem verständnislosen Blick. „Ich meine, die Leute sprechen doch gar kein – oder fast kein – Englisch. Wie kannst du da einkaufen?“ – „Ich.. ich spreche Russisch.“, sage ich. Und füge in Gedanken hinzu: und zum Einkaufen muss ich auch nicht mit den Leuten reden. Zumindest nicht viel.
Ich war bei Lenta, um mir Nahrung für mein Abendessen zusammenzusuchen. An der Kasse werde ich gefragt, ob ich eine Bonuskarte besitze. Ich verneine. Daraufhin steht die Kassiererin auf und fragt alle umliegenden Menschen, ob sie ihre Karte dabei hätten, ob sie sie mal kurz haben dürfe. Ein Mann an der Kasse nebenan greift zerstreut in sein Portemonnaie und gibt sie meiner Kassiererin. Diese zieht die Karte zufrieden über den Scanner und blickt mich glücklich an. „Das macht 981, 50“. „Schön“, denke ich. Jetzt habe ich 100 Rubel gespart – ungefähr 1,50€.

„Trinkst du Alkohol?“ Ich stehe in der Küche und mache Frühstück. Skeptisch begutäuge ich mein vor sich hin köchelndes Porridge, meine Augen sagen „Wehe, du brennst an“, dann wende ich mich zu Lev, einem dunkelhaarigen Russen mit Hipster-man-bun, der ungefähr meine Größe hat. „Ja, schon.“, antworte ich. „Warum?“ – „Super. Es trinken hier nicht viele Leute.“ – „Doch, eigentlich schon.“, mischt sich ein Mädchen ein, das im blauen Kuschelstrampler auf der Heizung sitzt. Lev winkt ab. „Aber nicht richtig. Ich bin hier der Wohnheim-Alkoholiker, ich kämpfe allein an vorderster Partyfront.“ – „Ich kann versuchen, dich da zu unterstützen.“, sage ich und versuche fluchend, mein Essen umzurühren. Es klebt. Ich mache den Herd aus.
Ein paar Stunden später treffe ich Lev wieder in der Küche, er sitzt dort mit einem Freund vor einem Glas Bier, wortlos reicht er mir seinen Rucksack, aus dem ich mir eine Dose Heineken hervorwühle. „Wie lange bist du eigentlich hier?“, fragt er. „Bis Juli.“, sage ich. „Sechs Monate also. So eine kurze Zeit.. das reicht doch gar nicht, um zusammen betrunken zu sein.“ Er sieht ernsthaft besorgt aus. Ich nippe an meiner Dose. Wir trinken und erzählen ein bisschen vor uns hin. Nach dem zweiten Bier sagen die beiden, sie müssten gehen, sie träfen sich noch mit einem Freund in einer Bar, es sei schon spät. Sie wollten um elf da sein. Es ist elf. „Was ist das für eine Bar? Und wo?“, frage ich. „Sie nennt sich Klisch‘ – also Klischee – Metrostation Petrogradskaya.“ „Petrogradskaya?!“ „Petrogradskaya“ „Nein, Baltiskaya.“, korrigiert der Freund, dessen Namen ich vergessen habe. „Baltiskaya?!“ Ich bin verwirrt. Es entbrennt ein Streit. Lev ruft Igor an. Er flucht viel. „Baltiskaya“, sagt er schlussendlich. „Ich komme mit.“, sage ich. „400 Rubel Eintritt.“ „Kein Problem.“
In der Metro ist es laut, dafür sind nur wenig Menschen unterwegs. Lev holt eine halbleere 1,5l Flasche Bier aus seiner Tasche. „Das ist illegal“, sage ich. „Hier ist niemand“, ich zucke mit den Schultern und trinke einen Schluck Bier. Levs Freund trinkt. Lev trinkt. Dann zaubert jemand eine Packung Suchariki hervor, Käsegeschmack. Bier und Chips in der Ubahn, fast wie Zuhause in Berlin. Dann stellt sich ein alter, runtergekommener Mann neben uns. Als Lev und sein Freund beginnen, sich vorzustellen, platzt die Illusion von Heimat. „Möchten Sie ein bisschen Suchariki?“ „Klar, gerne.“ seine dreckige Pranke verschwindet in der Tüte. Ich mache mir eine mentale Notiz, die restlichen Chips abzulehnen. Es entspinnt sich ein Dialog, den ich nicht verstehe, also versinke ich in meinen Gedanken, bis der mysteriöse Mann aussteigt und uns zurücklässt. „Wir mussten das tun, verstehst du.“, klärt Lev mich auf. „Sonst hätte er uns verprügelt.“ „Oder irgendetwas anderes“, fügt sein Freund hinzu. Warum nur kann ich mich nicht an seinen Namen erinnern? „Warum das denn?“ „Das hier ist Russland. Die Leute sind so.“ „Ich glaube euch kein Wort.“ „Du wirst schon sehen. Die Leute hier sind gefährlich, wenn du ihnen nicht passt, aber wenn du mit ihnen redest, ist alles in Ordnung.“ Ich nicke verständnislos.
Draußen empfängt uns kalte Dunkelheit. Leise fallen ein paar Schneeflocken zu Boden. Ich friere und schlage mir die Kapuze über den Kopf, dann wird mir klar, dass ich dringend auf Toilette muss. „Ist es weit bis zur Bar?“ – „Nein, nein. Nur hier runter, über den Kanal, dann gleich dadrüben.“ – „Bist du bereit für extreme russische Erlebnisse?“ – „Was, wieso, ja?“ – „Ahhhh!“, schreit Lev und wir rennen los über die Straße und springen über einen Zaun auf den Gehweg auf der anderen Seite. Seufzend zeige ich mit meinem Daumen nach rechts. „Weißt du, dort ist ein normaler Bürgersteig auf der Brücke, den man normal über eine Ampel hätte erreichen können, wenn man sich vorher umgeschaut hätte.“, sage ich. „Ups“, sagt Lev und zuckt mit den Schultern. Ich seufze noch mal. „Wo lang jetzt?“ „Links.“ „Oder rechts?“ „Nein, links.“ „Ich bin nicht sicher.“ „Ich muss auf Toilette.“ „Warte.“ „Wir fragen diese Leute.“ uns kommt eine betrunkene, schlampig gekleidete Frau in Begleitung entgegen. Sie gestikuliert wild und flucht viel. Schließlich können wir die Informationen, die sie uns gibt, verwerten in ein „hier links und dann die übernächste Kreuzung rechts runter“. Wir irren noch ein bisschen durch den Schnee und die Nacht. Die Straßen sind fast leer. Es könnte still und angenehm erfrischend sein, wenn meine Blase nicht so drücken würde.
Bevor wir die Bar betreten, laufen wir drei mal aus Versehen dran vorbei. Aber dann dröhnt uns laute 90er Rockmusik entgegen, ein Freund begrüßt uns, ich verschwinde kurz nach hinten, es ist ein lauter, bierseeliger Abend. Leute moshen auf der Tanzfläche, zwischendurch verstummt die Musik, damit der DJ irgendwelche Fragen stellen kann. Ich tanze eng mit Igor, wir drehen uns im Kreis, ich muss fast kotzen und bin verwirrt, ich weiß nicht, wie spät es ist, weil ich mein Handy zu Hause liegengelassen habe, aber ich denke, ich möchte gehen. Alleine darf ich nicht – eine Frau, so jung, nicht mal Russin, allein im Taxi, nein, nein, du wirst garantiert entführt – also kommen sie alle mit, Lev, der Freund, und Igor, obwohl nur Lev und ich in Obukhovo wohnen. Letztere beiden werden auch nicht mehr vom Securitymenschen ins Wohnheim eingelassen, also brechen wir in das offenstehende Haus gegenüberein und erkunden dessen Keller. Irgendwann werden wir mit einem grünen Laserpointerlicht angeleuchtet. „Oh Gott.“, sage ich. „Entschuldigung, Entschuldigung!“, versichert Lev. Igor schaut entsetzt. Der Freund ist zu betrunken, um irgendetwas zur Konversation beizutragen.
Wir freunden uns mit dem Menschen hinter dem Laserpointer an. Er heißt Andrej und wohnt im Keller des Hauses. Er kann nicht vom Staat registriert werden, hat seinen Job verloren und sich deswegen ein Bett dort eingerichtet. Um ehrlich zu sein sieht sein Zimmer fast gemütlicher aus als meins. Während er uns seine Geschichte erzählt, füllen Rauchschwaden die Luft. „Eigentlich“, sagt er, „eigentlich hätte ich nur gerne mal wieder ein Bier.“, woraufhin Lev ihn freundschaftlich am Arm packt und nach draußen begleitet. Zu viert verschwinden sie, um Andrej eine kleine Freude zu bereiten. Ich gehe zurück ins Wohnheim. Igor erzählt mir, es sei fünf Uhr. Zeit, ins Bett zu gehen.
In meinem Zimmer erwartet mich Licht. Ich bin zu betrunken, um verwundert zu sein, dann erblicke ich Nastja, die mit ihrem Freund im Bett liegt. „Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott – ich habe nichts gesehen, überhaupt nichts, ahh!“, rufe ich und verdecke meine Augen mit meinem Ellenbogen. „Alles in Ordnung“, versichert mir Nastja, und die beiden verschwinden. Ich schlafe direkt kompromisslos ein. Vorher schaue ich noch auf mein Handy: keine neuen Nachrichten.
Am nächsten Tag finde ich beim Frühstück meine komplett dreckige Jacke in der Küche, außerdem eine kleine Ansammlung verschiedenster Kratzer auf meiner linken Hand, und keine Erinnerung daran, was ich gestern morgen noch in der Küche gemacht habe, bevor ich zu Bett gegangen bin. Außerdem finde ich Lev, der etwas zerstört mit einem alten Pink Floyd Shirt auf einem der kleinen, roten Hocker sitzt. „Ich sollte eigentlich um eins zu einer Besichtigung gehen.“, informiert er mich. „Was für eine Besichtigung?“ – „Ein bisschen Sehenswürdigkeiten herumzeigen, dies und das.“ – „Ja und?“ – „Es ist jetzt vier. Ich sitze immer noch hier in der Küche.“ – „Oh.. Na ja, nicht so schlimm. Hier ist es auch schön.“ Währenddessen verschütte ich bei dem Versuch, meine Pressstempelkanne zu benutzen die Hälfte meines Kaffees. „Ahh, verdammt!“, fluche ich. Zu den Kratzern auf der Hand gesellt sich jetzt noch eine Brandverletzung hinzu. Mürrisch nehme ich Kanne und Kaffee in mein Zimmer. Ich nippe ein bisschen an meiner Tasse, dann schlafe ich ein. Es ist aber auch wirklich noch zu früh zum nachdenken.

Weichenarbeiten

Ich war natürlich mal wieder viel zu früh am Flughafen. Nach dem letzten Desaster an Sylvester, wo ich fast meinen Flug verpasst hatte, weil SXF nicht auf den großen Ansturm vorbereitet war (ehrlich, wer hätte auch damit rechnen können, dass an Neujahr viele Leute verreisen?), wollte ich diesmal alles entspannt angehen. So entspannt, dass ich zwei Stunden hatte, um den Flughafen ausgiebig zu inspizieren. SXF ist kein großer Flughafen. Nach zehn Minuten war ich fertig, und die restliche Zeit verbrachte ich mit wütendem Warten. Aber dafür hatte ich drei Sitze für mich alleine, und die Sitze in den Aeroflot-Maschinen sind breit, also konnte ich auch breit sein.

Dann geschieht wieder zwei Stunden nichts, die Maschine rattert gemütlich über den Wolken seinem Ziel entgegen. In Petersburg werde ich angenehmerweise schon erwartet, und, was für eine Überraschung, es klappt tatsächlich alles reibungslos bis ich in meinem Wohnheimbett allein gelassen werde. Es erinnert doch alles sehr an Zehlendorf, nur irgendwie gemütlicher, dafür muss ich mein Zimmer aber auch mit jemand anderem teilen.
Ich beginne sofort, bei Airbnb nach freien Zimmern zu suchen. Ich bin am Ende der Welt von Sankt Petersburg, Obukhovo, davon habe ich vorher noch nie etwas gehört. Es ist nichts in der Nähe, weder Bar noch Fluss noch Leben, die beiden Kühlschränke sind zum bersten gefüllt und als ich den kleinen Laden um die Ecke besuche, schreit man mir entgegen: heute nur Bargeld. Ich habe kein Bargeld. Der Laden hat keinen Bankomat. Ich weiß nicht, wie das Hormon heißt, das für Verzweiflung zuständig ist, aber genau dieses fängt gerade damit an, es sich in meinem Gehirn äußerst gemütlich zu machen. Aber viel Zeit, um darüber nachzudenken habe ich nicht, denn ich muss direkt los zu Vera, um meinen Koffer abzuholen. Auf dem Weg dahin sterbe ich fast vor Hunger, komme aber an keinem Ort vorbei, an dem man fix etwas essen könnte, also muss ich darben. Außerdem ist es schon spät, also trinke ich dort nur einen Tee, wir verabreden uns für Freitag, und Vera fährt mich mit dem Auto bis zur Metro. Wieder dort angekommen, was ich von nun an für die nächsten paar Monate mein Zuhause nennen muss, erwartet mich meine neue Zimmermitbewohnerin. Nachdem ich den leeren Hamsterkäfig über ihrem Bett betrachtet hatte war das Kapitel eigentlich schon für mich erledigt – aber der Tag hielt doch noch eine Überraschung für mich bereit: sie ist ziemlich entspannt drauf. Gerade sitzen wir zusammen, jeder arbeitet vor sich hin – das heißt, sie arbeitet und ich schreibe diesen Artikel – und wir trinken Bier. Morgen fahren wir zusammen zur Uni, damit sie mir zeigen kann, wo das Büro ist, zu dem ich hinmuss. Ich habe inzwischen auch die anderen Menschen aus dem Wohnheim kennengelernt, auch die scheinen nett zu sein. Und es ist eigentlich ganz gemütlich hier. Bis zur Metro ist es nicht weit, und man kann ohne Umsteigen in die Stadt fahren. Ich glaube, ich kann mich dran gewöhnen.

 

// Es ist nur komisch; ich fühle nicht viel. Ich bin eben hier. Bin ich nicht hier, bin ich eben woanders. Das war auch in meiner WG in Berlin so, als ich sie besucht habe. Ich war eben da. Ich war nicht nostalgisch, nicht traurig, ich wohne da eben gerade nicht, mein Zimmer ist nicht mein Zimmer sondern Lennarts. Es ist irrelevant. Und nun bin ich hier. Ich kann damit leben.