Morgensonne
Ich wache auf, weil die Sonne mit unbarmherziger Härte in mein Zimmer scheint. Mir ist unerträglich warm. Ich ziehe die Vorhänge zu und lasse mich noch mal in meine Kissen sinken. Aussichtslos, ich bin wach, dabei hat mein Wecker noch längst nicht geklingelt. Eigentlich habe ich auch gar nicht richtig geschlafen, mich nur stundenlang hin- und hergewälzt, immerzu von einer Seite auf die andere, die Beine angezogen und wieder langgemacht, mal mit, mal ohne Decke habe ich die letzten acht Stunden im Bett gelegen und um das Recht auf körperlichen Energiesparmodus gekämpft.
Doch die Augen zu öffnen heißt nicht, die Beine aus der Kiste zu schwingen. Die Augen zu öffnen heißt anzufangen, klare Gedanken zu fassen. Heißt anzufangen, zu zweifeln, zu vermissen, zu wünschen, hoffen, hassen und fürchten. Ich rolle mich auf den Rücken und starre an die Decke. Ein Blick auf mein Handy sagt mir, dass in der Nacht niemand an mich gedacht hat. Ich will duschen, kann mich aber nicht zum Aufstehen motivieren, also bleibe ich einfach liegen. Mein Kopf braucht keine Einfindungsphase, er fängt direkt an, Ideen und Satzfetzen wild durcheinander zu feuern. Nach einer weiteren Stunde bewusster Prokrastination setze ich mich auf, falle auf den Boden und schleppe mich ins Badezimmer. Wenn man erst mal steht, sind Sachen einfacher: Duschen funktioniert. Porridge kochen, Essen, Kaffeetrinken und Zeitunglesen auch. Dann putze ich mir die Zähne und lege mich noch mal hin. Ich kontrolliere die Nachrichten erneut auf Informationen über Flugabzeugstürze im Atlantik, aber es ist nichts passiert und ich bin tatsächlich irgendwie erleichtert, obwohl ich natürlich genau weiß, wie unwahrscheinlich das ist. Eine weitere Stunde vergeht, in der ich denke: bevor du arbeiten gehst, musst du wenigstens noch ein paar Seiten gelesen haben für die Uni. Dann: aber du schaffst das eh nicht. Vielleicht solltest du stattdessen lieber anderweitig produktiv sein und für die WG einkaufen gehen. Dann: unmöglich, rausgehen und soziale Interaktion sind grad nicht drin. Also: vielleicht schaffst du’s ja, dich für dieses Stipendium zu bewerben.
Ich setze mich also an den Computer, recherchiere, ordne, trage zusammen und verfasse ein Motvationsschreiben. Als alles tatsächlich ausgedruckt vor mir liegt gönne ich mir einen kleinen Anflug von Stolz, dann versuche ich, auf der Webseite der Deutschen Post eine Briefmarke auszudrucken. Passwort funktioniert nicht. Nächster Versuch. Passwort funktioniert nicht. Zurücksetzen. Keine E-Mail. Zurücksetzen. Keine E-Mail. Zurücksetzen. Ich kriege eine Facebook-Nachricht: es gibt verschiedene Sprachkurse, sie kosten zwischen 900 und 1200€. Ich schaue auf mein Konto: 300€ für den ganzen nächsten Monat. Immer noch keine E-Mail. Ich breche an meinem Schreibtisch zusammen, fühle mich wie eine zersplitterte Porzellanfigur und krieche geschlagen ins Bett. Dann blinkt mein Handy: eine Nachricht von der deutschen Post. Ich fasse neuen Mut, begebe mich zurück an den Rechner, setze das alte Passwort zurück, erstelle ein Neues und versuche mich einzuloggen: ihr Account ist temporär gesperrt.
Ich gehe zurück ins Bett.