Eigentlich fing alles damit an, dass wir zu spät waren. Der Zug, der uns von Berlin nach Uelzen bringen sollte, blieb auf der Strecke mehrmals liegen und verursachte so eine Verspätung von rund 100 Minuten. In der Heimat angekommen ist es schon dunkel, kein Wunder; zwölf Uhr – Mitternacht. Ansgars Vater holt uns vom Bahnhof ab. „Hallo Alex. Lange nicht gesehen. Kommst du heute mit zu uns?“ Unter seinen runden Brillengläsern schaut ein sympathisches Lächeln hervor, die Stimme jovial, wie immer. „Nein danke“, antworte ich, „ich werde abgeholt“. „Wirst du wirklich abgeholt?“ murmelt Ansgar vor sich hin. Ich seufze. Wir haben im Zug schon überlegt, ob wir Wetten abschließen sollen, aber ich zeige mich zuversichtlich „Mike ist zwar nicht der zuverlässigste Mensch, aber ich vertraue ihm. Er wird mich wohl nicht alleine nachts am Bahnhof stehen lassen.“ Wir steigen die Treppen hinunter und durchqueren das Bahnhofsgebäude, Gleis zwei, Gleis eins, Fahrkartenautomaten, Snackbude, Ausgang. Ein paar Taxis stehen einsam auf dem mondbeschienenen Platz herum. Die dazugehörigen Fahrer lungern an ihre Fahrzeugtüren gelehnt und blasen gelangweilt blauen Rauch in die für die Zeit noch angenehm warme Frühlingsluft. Mike ist nicht da. „Kannst du mir mal bitte dein Handy geben? Dann versuche ich, Christian zu erreichen. Wenn der nicht weiß, wo Mike steckt, kann er mir wenigstens seine Nummer mitteilen“, sage ich und Ansgar reicht mir stumm sein Telefon. Er schaut skeptisch. Ich schaue auch skeptisch und wähle dabei Christians Nummer. „Hey, Krischan, Alex hier. Kannst du mir mal bitte Mikes Nummer geben?“ „Ich kann dir auch gleich Mike reichen!“ „Was. Wie. Aber warum, wolltest du nicht nach Herford?“ „Ach, Herford Merford, weißt du, bevor ich mit Danijal alleine..“ „Gut, gut, gib mir einfach Mike.“ „Hallo.“ „Hallo. Wo bist du?“ „Auf einer Bank vor’m Brösel.“ „Alles klar, bin in zwei Minuten da“ Ein wenig verwirrt lege ich auf. „Christian sitzt mit Mike vor’m Brösel“, fasse ich die Unterhaltung für Ansgar und seinen Vater zusammen. „Schätze, ich habe meine Abendbeschäftigung gefunden. Du möchtest wirklich nicht mit?“ „Nein, nein.“ Ansgar wirft einen schnellen Seitenblick auf seinen Abholdienst. „Ich bin wirklich müde. Und möchte morgen ja auch noch Fahrrad fahren gehen. Ich wünsche dir viel Spaß, wir sehen uns.“ Wir umarmen uns zum Abschied, ich gebe seinem Vater die Hand, ein letzter Austausch freundlichen Lächelns und wir gehen in verschiedene Richtungen davon. Christians weittragende Stimme höre ich schon, bevor ich irgendjemanden sehe. Ich beschleunige meinen Schritt, um nicht die gesamte Innenstadt zu wecken. Mein Rock weht theatralisch hinter mir her. Unterwegs verliere ich einen Schuh. So viel zum Thema Eleganz. Es folgt: großes Hallo, betrunkene Berührungen und spontane Liebesgeständnisse. Ich bin erleichtert, endlich angekommen zu sein und glücklich, dass meine Freunde so gute Laune haben. Christian bietet mir sein Weizen an, das ich dankbar entgegennehme und wir schlendern in die Bar. „Ich habe meinen Rucksack unten liegengelassen“, informiert mich Mike. „Aber warum denn?“ „Ich weiß nicht, ich hab ihn einfach da liegengelassen. Das macht mich nervös.“ Ich schaue ihn verständnislos an. Der Alkohol in seinen Augen schaut lieblich-naiv zu mir zurück. Ich drücke ihn einmal ganz fest. „Ich bin froh, dich zu sehen“, flüstere ich ihm ins Ohr und presse mein Gesicht in die warme Beuge zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Er strahlt mich an, nimmt kurz meine Hand, mein Herz fängt an zu springen, ich zucke mit den Schultern, lächle schüchtern, wir lassen uns los und gehen zum Billiardtisch. Christian tut so, als hätte er nichts gesehen. „Du und Mike gegen mich. Ihr verliert sowieso.“, konstatiert er. „Ach ja?“ Einfacher Mensch, der ich bin, fühle ich mich herausgefordert. „Um was spielen wir?“ „Der Verlierer schuldet dem Gewinner einen Kasten Bier.“ „Einen ganzen Kasten?!“, fragt Mike entsetzt. „Super Idee!“ Christian stößt an und versenkt die blaue Zwei. Damit haben Mike und ich die Halben. Das Spiel plätschert eine Weile vor sich hin, irgendwann scheint Christians Sieg unvermeidlich, dann versenke ich hintereinander die Zehn, Elf und 14. Gleichstand. Mit steigendem Alkoholpegel erreicht auch die Verwirrung ungeahnte Höhen. „Wo muss ich die Acht jetzt reinspielen? Da?“ Christian zeigt auf irgendein Loch des Tisches. „Nein, da, glaube ich“, sagt Mike und zeigt auf ein Anderes. Die beiden diskutieren eine Weile. Verstohlen legt Mike seinen Arm um mich und schiebt seine Hand in meine. Wir kuscheln ein bisschen, Christian konzentriert sich auf Billiard, ich fühle mich angetrunken, auch ein wenig schuldig, aber glücklich. Wildes Triumphgeheul reißt mich aus meinen nostalgischen Gedanken und signalisiert mir, dass Christian diese Runde wohl für sich entschieden hat. Wir fischen die Kugeln aus den Taschen und ordnen sie wieder neu in diesem Dreieck an, dessen Namen nie jemand weiß. Christian schmeißt sie einfach irgendwie rein, Mike sortiert, Christian stiftet wieder Chaos, Mike sortiert stoisch weiter, seine blonden Locken hängen ihm vor den blauen Augen und ich bemerke, irgendwie siehst du blass aus, irgendwie siehst du fertig aus. Ich lasse meinen Blick noch ein wenig auf dem mir so vertrauten Gesicht ruhen und wende mich dann dem Biernachschub zu. Als ich wiederkomme, hat sich auf dem Schlachtfeld einiges geändert. Ich ärgere mich nicht darüber, dass man nicht auf mich gewartet hat, das war mir von vornherein klar. Ich stelle nur das Bier auf dem Tisch ab, um den sich unsere Taschen gruppieren und mustere neugierig den Spielstand. Christian drückt mir den Queue in die Hand. Die Verteilung der Kugeln ist absoluter Müll. Mike diktiert mir irgendwelche Anweisungen, die ich willkürlich ausführe, weil ich keine besseren eigenen Ideen habe und erzwinge dadurch keinerlei signifikante Veränderungen. Es verschiebt sich alles ein bisschen hin und her, am Ende spielen wir Ewigkeiten um die Acht. Christian zündet sich eine Zigarette an. „Darf man hier eigentlich noch rauchen?“, fragt er. „Du weißt ganz genau, das nicht.“, sage ich. Und Mike wirft ein „Es gibt nicht viele Orte, die mir heilig sind. Das Brösel ist so einer. Ich will hier nicht auch noch rausgeschmissen werden. Ich mag es hier. Ich fühle mich hier wohl. Und ich möchte ihre Regeln nicht brechen.“ Erstaunt drehe ich mich zu ihm um. „Solche Worte aus deinem Munde?“ Christian hält Mike die Zigarettenschachtel hin, dieser überlegt kurz, verzieht die Mundwinkel, nimmt eine Kippe, legt sie auf den Sims, schaut sie an, beobachtet, wie Christian raucht, nimmt die Kippe wieder in die Hand und fragt nach Feuer. Christian wirft seine Zigarette auf den Boden und gibt Mike sein Feuerzeug, in dem Moment kommt eine Kellnerin von oben herunter. „Hat hier gerade jemand geraucht?“, fragt sie, während sie leere Biergläser einsammelt. Wir schütteln unsere Köpfe. Mike steht mit den Armen auf dem Rücken verschränkt hinter dem Billiardtisch. Christian steht auf dem ausgedrückten Stummel. „Hier hat eben jemand gedampft, vielleicht ist es das.“ „Nein, nein, das riecht eindeutig nach Zigarette. Hier drin darf nicht geraucht werden.“ Die Kellnerin wirkt nicht wirklich energisch, eigentlich klingt sie eher so, als sei ihr das Thema völlig egal. Aber Deutsche Bürokratie. Ihr wisst ja. Wir nicken wissend. Sie verschwindet wieder. „Ich wusste es. Da lasse ich mich einmal dazu verführen, diese eiserne, heilige letzte Regel zu brechen, da passiert sowas.“ Mike sieht aus wie jemand, der unter Schock steht. Wahrscheinlich ist er betrunken. Ich springe aufgeregt hin und her, um überschüssige Energie los zu werden. Christian versenkt die Acht, wir schulden ihm jetzt imaginäre zwei Bierkästen und wir gehen raus auf die Terrasse, damit Mike seine Sucht befriedigen kann. „Lass uns in die Rinne gehen“, schlägt er vor. Christian ist sofort Feuer und Flamme für diese Idee. „Die Rinne! Jaaa!“ „Gibt es die überhaupt noch? Heißt die nicht inzwischen irgendwie anders?“, frage ich. „Bei Christina, ja. Aber es hat immer noch denselben Ramschfaktor und dieselben Alkoholiker als Gäste.“ „Klingt wirklich lauschig und aufregend“, denke ich. Ich leere heimlich alle übriggebliebenen Biere, lege meinen linken Arm um Mike und meinen rechten um Christian und wir ziehen los, drei Musketiere auf dem Weg ein 50.000 Seelen Dorf zu erobern. Unsere Waffe ist der Suff, unsere Mission der Spaß und weil die Innenstadt so klein ist stehen wir nach drei Minuten schon vor Christina. Voller Elan schwingt Christian die Tür auf und bittet uns mit einer übertrieben galanten Armbewegung hinein. Drinnen ist es schummerig, Gläser klirren, es riecht nach Rauch und abgestandenem Bier. Die Gesichter sind müde und vor meinen Augen schwimmen sie, angefacht durch das schlechte Licht, alle zu einem einheitlichen Brei zusammen. Mit geübtem Blick haben meine Begleiter schon den Raum gescannt. „Die besten Plätze sind belegt“, befindet Christian. Ich habe mich inzwischen an die Beleuchtung gewöhnt und schaue nun meinerseits einmal in die Runde. Die Hälfte der Tische ist leer. „Nein, hier zu bleiben macht wirklich keinen Sinn“, sagt Mike und ich füge trocken hinzu „Es hat von Anfang an keinen Sinn gemacht, hierhin zu gehen.“ und, etwas leiser: „Warum hört denn nie jemand auf mich?“ Etwas ratlos bleiben wir vor dem Etablissement stehen. „Und wohin jetzt?“, frage ich. „Kurpark“, sagt Mike. Achselzuckend trotte ich den beiden hinterher. Sie bilden ein ungleiches Paar: Mike, der ungefähr so groß ist wie ich aber dafür nur halb so breit, mit wild abstehenden Haaren und seinem unsicheren Schritt, den linken Fuß leicht nach innen gebeugt, der immer ein bisschen hilflos aussieht, zierlich, aber in meinen Augen trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – so vertraulich wunderschön. Und daneben Christian, groß gewachsen mit breiten Schultern und einem selbstbewussten, determinierten Gang, das blonde Haar immer nur gerade so unordentlich, dass es nicht gewollt gemacht aussieht. Ich hole auf. „Gruppenkuscheln!“ announciere ich und wir liegen uns lachend in den Armen. „Schön, wieder hier zu sein“, sage ich. Mike pflichtet mir bei: „Es tut gut, dich zu sehen.“ und als Christian ein paar Meter weiter vorgeht noch: „Ich vermisse dich meistens.“ „Ich vermisse dich auch ziemlich oft“, sage ich. Er lächelt gequält. „Ziemlich oft“ wiederholt er. Ich nicke und beschleunige meinen Schritt. Wir setzen uns auf eine Bank, lauschen der Stille und betrachten den Springbrunnen vor uns. Der macht natürlich nichts Interessantes, schließlich ist es mitten in der Nacht. „Wie spät ist es eigentlich?“, fragt Christian, kaum, dass wir uns niedergelassen haben. Mike holt sein Handy aus der Tasche. „Halb drei“, sagt er und sein displaybeleuchtetes Gesicht weist einen leicht ungeduldigen Ausdruck auf. „Halb drei!“, schreit Christian und springt völlig unvermittelt auf. „Wann wolltest du los?“, frage ich. „Genau jetzt!“ ruft er, schnappt sich sein Fahrrad und radelt davon. Mike und ich sehen ihm noch hinterher, bis seine Silhouette zwischen den Bäumen verschwindet, dann schauen wir uns an. „Ich hab ein bisschen darauf gewartet, dass er endlich weggeht“, gibt er zu und grinst mich an. „Schon“, erwidere ich und nehme seine Hand. Wir schlendern Richtung Theater. Von dort aus überblicken wir wieder den Springbrunnen, nur diesmal von der anderen Seite. Wir setzen uns auf einen kleinen Vorsprung und Mike beschließt, erst mal einen zu bauen. Er holt seinen Rucksack hervor und kramt allerlei Zeug heraus: Tabak, Papes, ein schwarzes Feuerzeug, ein Baggy, Pappe. Fein säuberlich schmeißt er alles willkürlich auf den Absatz, auf dem wir sitzen und ich denke „Typisch Mike“, dann stellt er sich vor mich hin, zwischen meine Beine, ich lege meine Hände auf seine Hüften und grinse ihn an. Ein Kuss, ein paar geflüsterte Worte, erst schüchtern, dann nicht mehr ganz so schüchtern, irgendwann verzweifelt leidenschaftlich. Ich nehme seinen Kopf in meine Hände, streichle seine Wangen und wuschle durch sein Haar und fühle mich ganz einfach. „Fast so, wie wenn man eine Freundin hat“, sagt er. Ich nicke. Er setzt sich neben mich und fängt an zu drehen. Die Spitze des Joints glimmt rot, als er daran zieht und ich schaue mich um, schaue in die Dunkelheit und versuche, mich wie früher zu fühlen, damals, als alles noch ganz leicht war, als wir noch nicht die Nacht im Park verbringen mussten, weil keiner ein Zuhause hat, damals, als wir einfach ein langweiliges, normales Paar waren – aber okay, was heißt schon langweilig und normal. Wir waren die, die Schafe malend durch die Straßen von Berlin gezogen sind. Wir waren die, die mit dem Zug nach Minden gefahren sind, ein Fahrrad geklaut haben und die 20km wieder zurückgefahren sind, nachts um Zwei. Wir waren die mit dem grünen Licht im Badezimmer und den Vorhängen, die man nicht öffnen durfte – ACAB. Ich nehme die Tüte und Mike legt seinen Kopf auf meinen Schoß. „Weißt du“, fängt er an, „du kannst machen, was du willst. Schlaf, mit wem du willst. Interessiert mich nicht. Ich weiß, dass du am Ende sowieso wieder zu mir zurückkommst.“ Meine Hand bleibt kurz in der Bewegung zu meinem Mund stehen, ich bin eingefroren in diesem Moment und mein Herz überschlägt sich einmal. Dann antworte ich: „Du hast Recht.“ Ich ziehe. Wechsle die Hand. Streichle ihm mit dem Joint in der Hand durchs Haar. „Aber das ist gar nicht schlimm, dass du Recht hast. Ich wollte das erst komisch finden, unangenehm irgendwie, aber das ist es gar nicht. Es ist eigentlich sogar ganz schön, dass du das weißt. Weil ich weiß, dass es andersrum genauso gilt. Du bist immer in meinem Kopf und ich bin immer in deinem. Das ist was Besonderes. Wir sind was Besonderes, einfach so, wir müssen gar kein Paar sein.“ Ich ziehe noch mal, dann gebe ich die Tüte an Mike weiter, er bläst träumerisch ein paar Ringe in die Luft, dann setzt er sich auf und drückt den Joint aus. „Es wird kalt“, sage ich. „Wie spät ist es?“ „Fünf“ „Können wir irgendwohin gehen, wo es warm ist?“ Mike überlegt. „Zur Sparkasse“, sagt er dann. Ich zögere kurz, wollte meine Würde an dem Abend eigentlich bewahren, aber ich zittere, die Temperatur ist merklich gefallen und die erste Aufregung abgeflacht, also stimme ich zu. Wir packen unsere Sachen und machen uns auf den Weg. Die Anzeige vor der Filialie zeigt kaum 10°C an und wir sind dankbar um die Wärme, die uns empfängt. Im Radio läuft „I’m Blue“ von Eiffel 65. Die Lämpchen der Geldautomaten blinken im Takt. Fast. Wir unterhalten uns ein bisschen, kuscheln uns zusammen, tauschen noch ein paar schläfrige Küsse aus, es wird hell draußen und mehr und mehr Menschen betreten die Bank. Ein wenig unangenehm berührt setze ich mich auf. Mike schaut auf sein Handy. „Wäre es okay, wenn ich gleich den ersten Zug nach Vlotho nähme?“, fragt er. „Klar“, sage ich. „Würdest du mich auch zum Bahnhof bringen?“ „Sicher.“ Unsere nächtliche Rastlosigkeit scheint ein Ende zu haben. Wir schlendern durch die Straßen meiner Jugend, durch die Wege unserer gemeinsamen Vergangenheit. Keine Autos kommen uns entgegen, links und rechts türmen sich die Bäume und ihre Blätterkronen werfen dunkle Schatten über uns. Wir kommen an einem gläsernen, blaubeleuchteten Schild mit der Aufschrift „Kardiologiepraxis“ vorbei und ich muss kurz lächeln, in einem Anflug drogeninduzierten Wahnsinns habe ich dieses Schild vor ein paar Jahren zu meinem Lieblingsschild auf der ganzen Welt erklärt. Wir halten uns nicht an den Händen und wir reden auch nicht viel, sind müde, aber müssen auch nichts sagen. Wir kennen uns noch, nach all den Jahren mögen wir uns trotzdem auf die gleiche Weise. Fast, als hätte sich nichts geändert, nur, dass ich jetzt in Berlin wohne, studiere, arbeite, im Ausland unterwegs bin und er – immer noch hier.
„Der Abschied kommt jetzt schneller als erwartet“, sagt Mike als er auf den Fahrplan schaut. In drei Minuten kommt der Zug. Er nimmt ein letztes Mal mein Gesicht in seine Hände und küsst mich, ganz zärtlich, hält mich, als sei ich etwas Kostbares, das nur allzuleicht zu zerbrechen droht. Er kauft sich ein Ticket, ich halte die Zugtür auf, natürlich ist alles furchtbar stressig und wir viel zu spät dran, aber das sind eben wir und wer würde das auch ändern wollen?
Ich winke noch einmal zum Abschied und verlasse das Gleis. Inzwischen ist es hell. Dass die Sonne aufging habe ich gar nicht richtig mitbekommen. Ich suche mir eine Telefonzelle, von der aus ich meine Mutter anrufe, damit sie mich abholen kommt. Es ist Sieben Uhr morgens. Ich bin müde und kaputt und noch weit entfernt von nüchtern. Meine Glieder tun mir weh, ich friere. Bis meine Mutter hier sein wird, muss ich noch eine Stunde warten. Um der Kälte zu entfliehen setze ich mich in ein kleines Café und trinke einen Cappuccino.