MonatApril 2021

fahrradfahren

Weil ich nicht darüber schreiben kann, wo ich bin, weil sich das nicht ändert, sollte ich vielleicht darüber schreiben, wo ich gerne wäre. Aber die seltsamen Geschichten, die einem das Leben oft so entgegen wirft, die kann man sich eigentlich nicht ausdenken.

Ich steige in der Dunkelheit auf mein Fahrrad. Weil es alt ist, und nicht besonders gut in Schuss, fällt mir das Treten schwer. Nach wenigen Metern stelle ich fest, dass ich meinen Helm vergessen habe. Ich überlege ein bisschen, entscheide mich aber schlussendlich dagegen, noch einmal umzukehren. Wozu?
Wenn ich nachts in den Straßen unterwegs bin höre ich absichtlich keine Musik. Nicht, weil ich denke, dass es gefährlich sein könnte. Sondern, um die Stille zu genießen. Die ganz besondere Stille, die nur an Orten vorkommt, die eigentlich immer lärmerfüllt sind. Nun, sofern es unter dem Rütteln und Klappern und Quietschen meines Rades eben still sein kann.
Ich fahre Richtung Zoo, wo die geräuschlose Nacht besonders laut ist. Unterwegs denke ich immer wieder über den Grund meiner Reise nach. Mein Handy vibriert. Mein Rock flattert mir um die Beine. Ich solle mir abgewöhnen, mit Rock Fahrrad zu fahren, sagt sie, aber mir ist das egal. Wenn es warm ist, trage ich einen Rock. Wenn es kalt ist, trage ich auch einen Rock, dann aber mit Strumpfhose. Gerade ist es zum Glück nicht kalt.
Geistesabwesend radle ich die Straße hinunter. Lichter huschen an mir vorbei. Es gibt vielleicht weniger Lärm, denke ich, dafür aber doppelt soviel Licht. Manchmal erregt etwas meine Aufmerksamkeit und ich drehe mich beim Fahren nach links und rechts um. Das ist eine Angewohnheit, die ich leider unabhängig davon, ob viele Autos unterwegs sind, habe, aber ich bin nichtsdestotrotz froh über die Abwesenheit potentiell tödlicher motorisierter Vehikel.
Wieder vibriert mein Handy. Aber alle Ampeln sind grün und ich habe gerade so ein fantastisches Fahrgefühl. Ein Gefühl von Freiheit und Schwung und Geschwindigkeit. Ich werde ihr sagen, dass ich gute Laune habe, nehme ich mir vor. Dass ich froh war über ihre Nachricht, auch, wenn sie seltsam ambig klang. Mich überholen ein paar Krankenwagen, die mit ihrem blauen Flackern und den schreienden Sirenen den dunklen Samtvorhang meiner Gedanken gewaltvoll beiseitewischen.
Nur noch einmal rechts, einmal links abbiegen, dann bin ich da. Als ich um die Ecke düse, mache ich mir eine mentale Notiz, dass hier ein neues Café aufgemacht hat. Das wird ihr gefallen. Wir könnten morgen dorthin gehen und einen Café Au Lait trinken, das ist ihr Favorit, und einen Carrot Cake frühstücken, mein Liebling, weil wir es können, weil Sonntag ist und sich niemand darum scheren wird, weil man das Leben auch mal genießen muss, und man sich mit diesen ausländischen Bezeichnungen für alltägliche Nahrungsmittel so wunderbar international fühlen kann.
Als ich nach zwanzigminütiger Fahrt etwas keuchend bei ihr vor der Tür stehe und klingele, bin ich optimistisch gestimmt. Die Zukunft, male ich mir aus, wird kaffeegetränkt und gemütlich sein. Ein verliebtes Lachen im Schneidersitz mit zurückgeworfenem Kopf auf einem buntgemusterten Teppich. Ich klingele noch mal.
Wo bleibt sie denn?

stromschnellen

und immer veraendern sich dinge. alles ist seltsam. ich fuehle mich, als wuerde ich achtlos vor mich hintreiben, hin- und hergeworfen von der stroemung. heute habe ich unter grossem emotionalen aufwand einen meiner 37264 jobs gekuendigt. ich hoffe, das war eine gute entscheidung. ich versuche, kleine quality-of-life-improvements durchzufuehren in meinem leben. zum beispiel, mein schreibtischstuhl hat jetzt filzgleiter unten dran. so konnte ich die schreckliche, viel zu kleine bodenschutzmatte in den flur verfrachten. so sieht es wenigstens so aus, als haetten meine schuhe einen konkreten platz. haben sie natuerlich nicht, weil ich noch kein schuhregal habe. aber die illusion ist da.

es faellt schwer, nicht pausenlos zurueckzudenken. an letztes jahr, vor zwei jahren, vor drei jahren. meistens war ich um diese zeit in sankt petersburg. ich glaube, 2015 war das letzte mal, das ich ende april in berlin war, und da war ich noch mit florian zusammen. eine ganz andere welt. und auch da waren wir kurz vorher in norwegen. ich stelle fest, dass das leben ohne reisen, feste und konzerte nicht besonders lebenswert ist. es ist fraglich, wie lange es sich das aushaelt. wann werde ich das naechste mal auf einer buehne stehen und meine drittklassigen texte vortragen? wann werde ich das naechste mal so tun, als wuerde ich eine bar eroeffnen, um mehr gratis weinproben zu erhalten? wann wieder einen fussballmusterfoermigen abdruck auf meinem gesicht haben? wann von komplett fremden menschen durch eine menge getragen werden?

ich habe nicht das gefuehl, dass mein leben auf irgendetwas zusteuert momentan. eher im gegenteil, es scheint von allem wegzusteuern. ich vermisse sankt petersburg. aber ein grossteil meiner freunde ist nun auch nicht mehr da. beergeek existiert nicht mehr richtig. all die dinge, welche die stadt so extra-besonders gemacht haben. und nichtsdestotrotz vermisse ich sie. der ueberfuellte nevsky mit seinen praechtigen fassaden. bars an bars gereiht auf der nekrasova. zum einkaufen in 37 verschiedene laeden muessen. nachts an der fontanka entlang laufen. sekt zum fruehstueck bei granola. ausgefallene gin-kreationen im do immigration. pizza bei 22. super abgeranzt neben super hipster. ein leben voller gewohnheiten, gemuetlichkeiten. ich hatte meine plaetze, meine orte, meine rituale; all das sind dinge, die mir in berlin fremd sind. und dinge, die in berlin immer schon weit weg waren, rein geographisch gesehen.

ach, russland, ich wuenschte du wuerdest nicht von einem despotischen autokraten regiert werden. das wuerde mein leben viel einfacher machen. vielleicht, in zwanzig, dreissig jahren, wenn putin (hoffentlich) nicht mehr unter uns weilt, gibt es eine chance. vielleicht. aber dann bin auch ich schon alt.

ich bin so muede und lebenslustlos. es ergibt fuer mich gerade wenig sinn, sich tag fuer tag durch den gleichen trott zu kaempfen. jede zukunft scheint universen weit weg.

irgendwo anders

ein anderes leben
auf einem anderen planeten:
in bars gehen
freunde treffen
feiern und tanzen
konzerte
festivals
lieben und lieben lassen
einkaufen ohne test und ticket
in russland leben
in die zukunft planen
im meer schwimmen
reisen
bei fremden im auto mitfahren
geschichten erzaehlen und zu erzaehlen haben
ausgehen
sich schick machen
theater, kino und ballett
neue leute kennenlernen
wagemutig sein
spontaneitaet
ueberraschungen

woher weiss ich noch, wer ich bin oder
ob ich bin?
es gibt nur noch:
arbeit und
uni und
arbeit und
uni und
arbeit und
uni und arbeit und uni und arbeitund uni und arbeitunduni

ich bin immer noch muede, aber nur noch grundlos

dass die monate wechseln erkenne ich nur noch an den kalenderspruechen

vorfreude ist gecancelte freude

die welt ist leer.