Zu Hause sitzen und stricken

Man hat jetzt etwas Zeit zum Stricken. Stricken ist allerdings nur dann halbwegs erfüllen, wenn man nebenbei etwas anderes macht. Vielleicht werde ich so endlich den Wert von Podcasts und Audiobooks zu schätzen lernen.

Eigentlich ist zu Hause bleiben gar nicht so viel anders wie nicht zu Hause bleiben, aber doch irgendwie schon. Es ist schwierig, wenn die Menschen in deiner Umgebung diese Ansicht nicht teilen – dass man eben zu Hause bleiben sollte. Nicht, weil man es will, sondern, weil es das Richtige ist. Nicht, weil man Angst hat, sondern, weil man nicht Teil des Problems sein will.

Es ist schwierig in Russland. Viele verstehen nicht, was das alles soll. Eine Freundin meinte heute zu mir, ich würde überreagieren, weil ich den Stay-At-Home-Maßnahmen tatsächlich Folge. Sie sagt „aber es ist nur eine Empfehlung!“ – ja, aber es wird keine bloße Empfehlung bleiben, wenn du trotzdem weiter feierst. Sie sagt „seltsam, dass du jetzt so reagierst, dabei hast du auf den Anschlag auf die Metro vor ein paar Jahren eher abweisend reagiert.“ Und ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll. Was hat ein terroristischer Anschlag mit einem Virus zu tun? Ich sage ihr, ich kann keine Anschläge verhindern, egal, was ich tue. Aber ich kann verhindern, dass ich nicht aus Versehen andere Leute anstecke. Ich sage auch, wenn ich die Metro weiter benutze und unvorsichtig bin und dann ein Anschlag passiert, ist das meine eigene Schuld und mein eigenes Problem, das betrifft nur mich. Sie sagt „Hast du gerade ernsthaft gesagt, Leute, die bei einem Anschlag sterben, sind unvorsichtig?!“ Ich seufze. Ich sage, vielleicht bist du nicht genug informiert. Sie sagt, wie viele Menschen kann eine einzige Person wirklich anstecken? Ich zeige ihr eine Grafik. Sie sagt, sie will nicht weiter darüber reden.

Und ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Es geht nicht darum dass wir einfach unterschiedlicher Meinung sind. Es ist so: das hier ist kein Thema, bei dem man unterschiedlicher Meinung sein kann. Man kann sich nicht positionieren. Entweder man bleibt zu Hause/auf Distanz oder man ist eben ein egomanischer Arsch. Sie sagt, sie versteht nicht, warum ich so Angst habe, krank zu werden, wie wahrscheinlich sei das bitte? Ich wiederhole, es geht nicht um mich. Sie versteht nicht. Es ist eine Sache von Moral. Ich will nicht mit Menschen befreundet sein, die so auf sich fixiert sind, dass sie das globale Problem nicht sehen.

Sicher, ich habe am Anfang auch gedacht, alle schnappen über. Aber ich habe auch nicht aufgehört, Nachrichten zu lesen und dann meine Meinung geändert.

Natürlich sind die offiziellen Zahlen in Russland gefälscht. Man braucht nicht mehr als drei Gehirnzellen, um das zu verstehen. Warum denken die Russen, es sollte hier anders sein als im ganzen Rest der Welt? Es ist schließlich nicht nur ein europäisches Land oder zwei. Es ist Deutschland, Spanien, Italien, die Staaten, China, Indien, Iran, überall. Sonst höre ich überall „den russischen Medien kann man nicht vertrauen, Putin gehört schon längst abgeschafft“, jetzt nicht. Jetzt heißt es „bei uns gibt es kein Problem.“ Oder allerhöchstens „das ist doch nur in Moskau“. Richtig, es bleibt natürlich auch in Moskau. Leute reisen nicht. Es gibt keinen Geschäftsverkehr zwischen Sankt Petersburg und Moskau. Die Ehrfurcht des Virus vor dem Venedig des Nordens ist viel zu groß, um hier Fuß zu fassen.

What the fuck.

Ich kann meine Fassungslosigkeit und Verzweiflung einfach nicht in Worte fassen, es ist so frustrierend, wo man hinguckt scheinen die Leute zu glauben, es betrifft sie nicht. So wie überall anders auch, und überall anders ist das gleiche geschehen: das betrifft uns nicht. Oh shit! Es betrifft uns doch! Oh nein! Zu spät.

Aber es bleibt mir ja nichts übrig, wenn man vor den Fakten die Augen verschließen möchte, dann kann ich nicht viel dagegen tun außer zu Hause bleiben und stricken.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert