Frisch gestrichen

Frisch gestrichen, dunkelgruen. Die Aufzugtueren bitte nicht anfassen. Erdbeeren im Kilo, 3,99 und grosses Geschubse auf der Treppe. Bunte Bilder. Fliegende Funken. Irgendwo knallt es. Eine aeltere Frau sitzt mit leerem Gesichtsausdruck auf dem Boden und bittet mit einem abgeschnittenen Pappbecher um Geld, doch die Passanten werfen weder Muenzen noch Scheine, nur muerrische Blicke in alle Richtungen. Hektisches Gewusel und billige Brezeln unter leuchtend gelben Anzeigetafeln. Ein Baby schreit, ein paar Meter entfernt quietscht es laut, es riecht nach Kaffee, Mensch und Muff. Ein Zug faehrt ein. Zurueckbleiben bitte. Der Bahnhof Friedrichstrasse ist heute wieder besonders voll.

Grosses Drama, naechster Akt. Bevor der Vorhang faellt muss ich noch Einiges erledigen. Unterwegs zu meinem Sitplatz draengle ich mich an Dutzenden von Menschen vorbei und sage dabei „Entschuldigen Sie bitte“, aber auch damit sind sie nicht gluecklich. Man will niemandem auf die Fuesse treten, aber unter dem gedimmten Licht auf dem dunkelroten Samtboden sieht man so wenig. Ich knirsche mir meinen Weg auf fallengelassenen Popcornkruemeln und gemurmelten Protesten. Endlich erreiche ich meinen Sitplatz. Er ist besetzt. Zeit, umzudrehen und nach Hause zu gehen. Man muss wissen, wann man aufgeben muss.

Beleuchtete Haeuserfassaden verschwimmen hinter meinem glasigen Blick. Nach dem vierten Glas Bier habe ich die Uebersicht verloren. Ich stolpere ueber Kopfstein, Asphalt, Holz, hinter mir ein Fluss, vor mir ein Fluss, um mich herum: Autos, Restaurants, Bars und ein paar schummrige Gestalten. Der kalte Novemberwind weht mir die wenigen blonden Haare aus dem Gesicht, die noch unter meiner Muetze hervorragen. Es ist Mittwoch, ich bin seit drei Tagen wieder Zuhause und denke mir: irgendwann musst du damit aufhoeren. Es faengt leise an zu nieseln und ich zu summen. Man muss doch alle Chancen nutzen.

01. August. Mir bleiben fuenf Wochen, um eine Bachelorthesis zu schreiben. Ich bin zuversichtlich. Es wird knapp, aber machbar. Ich habe genau ausgerechnet, wie viele Seiten pro Tag ich schreiben muss (1,25) und denke, das wird gehen.
02. August. Das Pruefungsbuero teilt mir mit, dass mir noch ein Sprachkurs fehlt, um alle fuer den Bachelor benoetigten Punkte zu erreichen.
02. August, abends. Ich fange an, Kroatisch zu lernen.
05. August. Ich bringe in Erfahrung, dass es nur eine Pruefung fuer A1 in Kroatisch gibt, und die ist am 30. August. In Kroatien. Ich rechne aus: um das zu schaffen, muss ich drei Stunden Kroatisch pro Tag lernen.
06. August. Ich treffe mich mit meinem Prof. Er willigt ein, meine Arbeit zu betreuen und schlaegt mir direkt einen Zweitbetreuer vor.
13. August. Auch meine Zweitbetreuerin ist einverstanden. Ich bin bereits zu einem Drittel fertig mit meiner Arbeit. Es ist sehr stressig, aber immer noch machbar.
14. August. Ich erhalte eine Mail vom Pruefungsamt. Meine Zweitbetreuerin darf mich nicht betreuen, weil sie aus irgendwelchen Gruenden nicht zugelassen ist.
16. August. Meine Zweitbetreuerin darf mich doch betreuen.
20. August. Auf Anfrage teilen mir die Menschen aus Kroatien mit, dass ich bei ihnen keine Pruefung schreiben darf. Ich drossele mein Kroatischpensum ein wenig.
31. August. Ich bin fertig mit schreiben. Ich wuerde meine Arbeit gerne abgeben, aber aufgrund der Probleme mit der Zweitbetreuerin war mein Antrag sehr lange in Bearbeitung und ich muss noch anderthalb Wochen warten.
02. August. Ich telefoniere saemtliche Schulen durch, die moeglicherweise Kroatischpruefungen anbieten. In Zagreb werde ich endlich fuendig. Ich buche einen Zug, eine Unterkunft und einen Flug nach Hause.
10. September. Mein Mitbewohner will meine Arbeit im Pruefungsbuero abgeben. Das Pruefungsbuero ist die ganze Woche geschlossen.
12. September. Ich bestehe meine Kroatischpruefung mit 94%.
19. September. Endlich ist meine Arbeit eingereicht.
19. September, abends: meine Kroatischpruefung ist kein ausreichender Nachweis dafuer, einen Kroatischkurs besucht zu haben.
Heute: vielleicht faellt mir irgendwann etwas ein, um dieses Problem zu beheben.

Ich wache auf und drehe mich auf die Seite. Das Bett knarzt. Ich drehe mich noch einmal. Das Bett knarzt immer noch. Am besten schlafe ich einfach weiter. Das Problem loest sich sicher irgendwann von alleine.

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