MonatSeptember 2018

Der Prozess

Es leert sich ein bisschen. Es dauert, und ich weiss immer noch nicht, was der effizienteste Weg ist, wirklich alles, alles loszuwerden, aber es ist ein staendiger Prozess. Mein Fernseher ist schon Weg, meine Playstation ist verpackt und bereit, nach Paderborn geschickt zu werden. Alle meine CDs und 80% meiner Buecher befinden sich in Boxen und werden Montag abgeholt. Ich dachte, es wuerde mir schwer fallen, alles gehen zu lassen, und wenn ich mich umschaue in diesem chaotischen Durcheinander von Gegenstaenden, ein Sammelsurium eines Lebens, dann wird mein Herz ein bisschen schwer. Aber als ich letztens bei Curious Fox an der Theke stand und meine Buecher hinuebergeschoben habe hat meine Hand nicht einmal gestockt, meine Augen blieben nicht an den Umschlaegen kleben und meine Zunge wurde nicht schwer, als ich gesagt habe „Okay“ und alles im Regal verschwand.

Ich habe einen neuen Laptop gekauft – der Grund, warum ich keine Umlaute benutze; er hat eine amerikanische Tastatur – und meinen alten in die Reparatur gebracht, in der Hoffnung, noch ein bisschen meine Reisekasse damit aufzustocken (oder auch nur die Kosten fuer den neuen Laptop zu decken. Teures Teil.)

Schritt fuer Schritt. Montag vielleicht werde ich versuchen, mein Visum zu beantragen. Am Donnerstag war ich in der Bib und wollte eigentlich lernen, aber ich war so unruhig und rastlos, dass ich nur die ganze Zeit hin- und hergelaufen bin und Reisedinge erledigt habe.

Vielleicht macht es einfach nicht fuer jeden Sinn, sich auf Biegen und Brechen in die Gesellschaft, das „System“ – bzw. das, was wir dafuer halten – zu quetschen. Wahrscheinlich ist der Grat zwischen Mut und Dummheit sehr, sehr schmal. Aber was ist schon das schlimmste, was passieren kann?

Ein Anfang vom Abschied

Ich bin gerade dabei, all meine Sachen auszusortieren – sie wegzugeben und zu verkaufen. Dabei fällt mir immer wieder auf, wie viel Erinnerung doch überall dran hängt. All die Bücher – weit über 100 Stück – immer und immer wieder gelesen. Layers and layers and layers of past me-s. Bücher, die ich von meiner Mutter habe. Bücher, die ich gekauft habe, als ich noch mit Andreas gewohnt habe. Bücher aus meiner ersten Wohnung in Berlin. Bücher, die ich als Jugendliche gerne gelesen habe. Bücher, die ich vor Ewigkeiten ausgeliehen und nie zurückgegeben habe. Und Dinge, die Geschichten erzählen. Wie die Ocarina, die plötzlich in meinem Postfach lag. Ein Freund, mit dem ich nur sehr wenig Kontakt habe, hatte sie mir zum Geburtstag geschenkt – weil er sie irgendwo im Internet gesehen und an mich gedacht hat. Die Konzertkarte vom ärztival 2013, nachdem ich mich zufällig mit Alex getroffen habe, einfach so. Der Fernseher, der mich seit 8 Jahren begleitet und auf dem wir einmal stundenlang 4-Teile-Puzzles auf der Wii gespielt haben. Der Companion Cube, den Mike mir zur Weihnachten geschenkt hat – und der so großen Stress ausgelöst hat, weil seiner Mutter, beim entgegennehmen der Post, der Deckel runtergefallen ist und er ihn kleben musste. Der Computer, den ich in mühevoller Kleinstarbeit mit Tim übers Internet zusammengeshoppt und dann mit Florian in der Wohnheimküche in weiterer noch viel mühevollerer Kleinstarbeit zusammengebastelt und gepuzzelt habe. Der Poncho, den mir Daria auf der Freistuzfahrt geschenkt hat, weil er mir „so viel besser“ stand. Der Subwoofer, den Dominik extra für mich gebaut und mir dann untergejubelt hat, als ich vor zwei Jahren das erste Mal aus Russland wiederkam. Die Anlage, die ich vor über 10 Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen habe und die immer noch einwandfrei funktioniert. Der Monitor, den Mama mit ihrem Windows Vista PC genutzt hat und der dann eine Zeit lang bei Andreas im Wohnzimmer rumstand (ich realisiere gerade, dieser Monitor hat Pornos von Andreas gesehen. Ew.) Der Wanderer über dem Nebelmeer, den ich auch zufällig in meinem Briefkasten fand, als ich völlig niedergeschmettert nach Hause kam und der mir den ganzen Tag gerettet hat. Das Bild aus dem Museum in Oslo, wo ich spontan mit Florian hingeflogen bin, weil er einfach so im Internet nach Flügen gesucht hat und sich gemerkt hat, dass ich gerne einmal nach Norwegen würde. Hitler aus dem 1€ graphic prints / book shop in San Francisco. Die seltsamen Kartenspiele, die mir Cyrus und Christian geschenkt haben, als sie spontan für meinen Geburtstag nach Berlin getrampt und in mein Haus eingebrochen sind, während ich in der Klinik war. Das große Vogelbuch, das mir Mike extra von seinem Stiefvater geklaut hat, um mich aufzumuntern. Die kleine Nachttischlampe, die anscheinend genauso aussieht wie ich. Der Dortmund Bierdeckel, auf dem „Kein Bier für Rassisten!“ steht, und den ich aus der Kneipe nach dem BVB-Spiel mitgenommen habe, in der wir alle eine Runde ausgegeben bekommen haben, weil Florian Geburtstag hatte. Die Zeichnung von Link, dir mir mein kleiner Neffe vor ein paar Jahren angefertigt hat, als wir alle noch Familie waren.

Ein Großteil meines technischen Equipments begleitet mich schon mein halbes Leben lang. Ich habe ein seltsames Verhältnis zu Besitz. Wenn ich mir etwas kaufe, was ich mir lange gewünscht habe, denke ich das ist meins. Das kann dir nun niemand mehr wegnehmen. Es gehört ganz dir und du kannst damit machen, was du willst! Und nun wird es mir doch weggenommen. Alles. Alles bis auf maximal zwei Umzugskisten und mein Rucksack, so der Plan. Tschüss Spiel, das Ansgar so verstört hat, weil er gedacht hat, wir schlachten mitten in der Nacht Pferde ab. Tschüss Longboard, mit dem ich mich regelmäßig fast umgebracht hätte, weil ich dachte, es sei eine gute Idee, mich von einem Betrunkenen auf einem Fahrrad ziehen zu lassen. Tschüss pinker Kifferbademantel, der mir im Studentendorf die kalten Nächte etwas erträglicher gemacht hat. Tschüss Plastikrose, die mir Daria beim Einzug geschenkt hat, als wir unsere Einweihungsparty im Kerzenschein hatten.

Ihr alle werdet mir fehlen. Aber es wird Zeit. Vielleicht sammle dich Dinge, weil ich Erinnerungen sammle. Ich habe schreckliche Angst vorm Vergessen. Ich weiß, ich habe schon viele schöne Momente vergessen, von denen ich mir einst geschworen habe, sie immer zu huldigen. Visuelle Denkzettel helfen mir beim aufbewahren dieser Momente. Aber wie wichtig ist das wirklich? Und ist es nicht viel mehr so, dass es einen festhält, gefangen hält, weil man, was man hat, doch so gerne wieder verliert? Wer nichts mehr hat, hat nichts mehr zu verlieren – und ist das nicht die größte Freiheit?

 

Da ist doch nichts

Woher weiß man denn jetzt, was man wirklich will? Wie kann man entscheiden zwischen depressionsinduziertem Wahn und tatsächlichen Gedanken? Es fällt mir zunehmend schwerer, alles auseinander zu halten. An manchen Tagen wache ich auf und denke: das, was du da tust – das ist genau das Richtige. An anderen Tagen, so wie heute, zweifle ich an allem. Ich kann mir nicht vorstellen, jemals einem geregelten Job nachzugehen. Ich kann mir nicht vorstellen, auch nur ein einziges weiteres Wort in dieser Hausarbeit über Sergej Dovlatov und Alltags-Idiomatik zu schreiben. Ich habe mich gestern für meine letzte schriftliche Prüfung angemeldet und als ich so den Bildschirm vor mir sah, dachte ich: das war’s. Nur noch diese drei Dinge. Die Bachelorarbeit ausgeklammert, musst du dich nie wieder für irgendetwas hier anmelden. Ist doch überschaubar, nicht? Nicht. Alles scheint ein unüberbrückbares Hindernis. Und es ist nicht einmal Zeit, die mich stresst, Zeit habe ich genug. Es sind die starren Richtlinien und Regeln, denen ich mich nicht beugen will, und die mir das Arbeiten zum Graus machen. Vielleicht hätte ich schon längst das Handtuch geschmissen, aber ich bin so kurz vorm Ende, da kann man doch nicht einfach aufgeben? Und das, vor allem, ohne aussichtsreiche Alternative.
Es sind doch immer dieselben Gedanken.

Ich muss mich mal wieder um Bafögangelegenheiten kümmern, meine Lieblingsbeschäftigung. Ich will hier weg, ich will weiter, ich will Neues, ich will Anderes. Ich fühle mich irgendwie nicht geschaffen für dieses System. Es ist alles falsch. Ich bin falsch und die Welt ist falsch und wir bewegen uns in unterschiedlichen Bahnen und trotzdem bin ich noch hier und alles ist wie immer.