MonatNovember 2013

Perfectly Imperfect

Wir sagen nicht mehr behindert, sondern assistenzbedürftig. Nicht schwul, sondern homosexuell. Nicht Ausländer, sondern Mensch mit Migrationshintergrund, nicht Zigeunerschnitzel, sondern Schnitzel in Paprikasoße, nicht Negerkuss, sondern Schaumkuss mit Schokoglasur.
Wir sind alles Veganer. Wir haben unsere Solaranlage auf dem Dach und Früchte essen wir nur dann, wenn der mit Wasser, gepumpt aus dem eigenen Brunnen auf dem Hof, gespeiste Apfelbaum in unserem sorgfältig gepflegten Garten sich einmal jährlich dazu anschickt, sein Gut auf den Boden zu werfen.
Wir gehen alle direkt zum Psychiater, wenn wir Probleme haben und therapeutischer Hilfe bedürfen, und wenn unsere Beziehung kippt und uns nicht mehr gefällt, machen wir direkt Schluss, weil wir vernünftig sind.
Wir sind alle politisch, am besten links und komplett informiert. Wir suchen immer als erstes ein klärendes Gespräch.Wir benutzen kein Papier oder Plastik, wir essen keinen zugesetzten Zucker und verzichten am Abend auf Kohlenhydrate. Wir machen ausreichend Sport, lassen uns regelmäßig impfen und verpassen nie die Vorsorgeuntersuchung.
Wir haben noch nie mit unserem besten Freund rumgemacht oder unseren Partner betrogen.
Wir sind Feministen und zwar alle, besonders Frauen, und Männer sowieso. Wir haben unser Abitur durchgezogen und unser Studium nicht abgebrochen, wir sind kulturell gebildet und gehen gerne ins Museum, und zwar in jedes.
Wir lassen uns nicht von der Werbung oder den Medien beeinflussen. Wir pauschalisieren nicht, nie.

Wir klauen nicht. Wir lügen nicht. Wir saufen nicht. Wir nehmen keine Drogen und prügeln uns nie.

Wir sind die perfekten Bürger.

Leihgabe

Eigentlich sollte ich mich nicht darüber wundern, dass es Menschen gibt, die nicht so denken wie ich. Manchmal tu ich’s aber doch. Ich stolperte letztens in einem Forum über einen Thread, dessen Erstellerin aus Versehen ein Kleid in der Umkleide zerissen hat. Viele sagten ihr, das sei gar nicht so schlimm, ihnen passiere das auch öfters und sie würden das Kleidungsstück dann einfach unauffällig wieder zurück hängen. Ich habe mich fürchterlich darüber echauffiert, sowas kann doch nicht angehen. Als Antworten erhielt ich nur sinnvolle Sätze wie „Was bist du denn für eine?“, und zwar von der Mehrheit. Kaum jemand stimmte mir zu, dass ich so ein Verhalten unmöglich finde.

Ich habe das Gefühl, es ist inzwischen normal. Alles gehört mir. Egal, wem es gehört, es gehört trotzdem mir. Ich muss niemanden dafür entschädigen, wenn ich es zerstöre. Bei Sachen wie dem Kleid geht es mir nicht mal ums Geld. Natürlich ist es bitter, einen (eventuell) hohen Betrag für etwas auszugeben, nur, um etwas reparieren zu müssen, was ich nicht mal mein Eigentum nennen kann. Fakt ist, die wenigsten Firmen würden zur Zahlung auffordern, denn in der Regel sind sie gegen solche Fälle versichert. In der Gastronomie nennt man das Schankverlust: aus einer Flasche Korn kriegt man theoretisch gesehen 35 Gläser. Aber es geht immer mal was daneben, und exakt den Strich bei 2cl trifft man sowieso nicht immer. Also plant man von vornherein den Gewinn nur mit vielleicht etwa 30 Gläsern. Genauso ist das bei allem anderen auch. Mir geht es hier schlicht und ergreifend um den Anstand, sich dafür zu entschuldigen, etwas kaputt gemacht zu haben. Und notfalls muss man eben mit den Konsequenzen rechnen. Eigentlich sollte das selbstverständlich sein.

Allein diese fragwürdige Moral finde ich traurig genug. Aber es gibt inzwischen auch so Spezialisten, die „was meins ist, ist auch deins“ irgendwie zu ernst meinen.

Ich verleihe gerne Sachen. Eigentlich. Leihen ist eine gute Sache: ich kann mir etwas eine Weile angucken und später entscheiden, ob ich es so toll finde, dass ich es selber haben muss. Dann gehe ich in den Laden und kaufe es mir. Wenn ich entscheide, ich brauche es doch nicht, konnte ich mir wenigstens ein ausführliches Urteil darüber bilden. Bei Büchern zum Beispiel ist das sehr praktisch. Fachliteratur z.B. ist äußerst teuer. Wenn ich ein bestimmtes Buch nur für ein Examen brauche, muss ich es mir nicht direkt kaufen, sondern kann einfach irgendwen fragen, der es bereits besitzt und es hinterher zurückgeben. Zugegeben, auch mir passiert es, dass ich mal etwas längerfristig bei mir Zuhause rumgammeln lasse – weil ich es einfach vergesse. Spätestens wenn man mich das dritte mal drauf anspricht bringe ich es beim nächsten Treffen mit. Und jetzt kommt der wichtigste Punkt: unversehrt. Und wenn es das nicht ist, dann ersetze ich es. Keine Diskussion. Nun sind mir aber auch schon Menschen untergekommen, die die geliehenen Stücke nicht nur behandeln wie Dreck (kostbare CDs einfach wahllos in Kartons geworfen) oder sogar gleich verlieren. Das allein ist mir schon unbegreiflich genug, aber wirklich schwammig wird mir zumute, wenn ich mitbekomme, dass meine verliehenen Sachen sogar noch weiterverliehen werden – ohne mich vorher zu fragen oder mich überhaupt darüber in Kenntnis zu setzen. Ich hatte meine Bassgitarre, weil sie so schwer ist, früher immer in unserem Bandprobenraum gelagert. Irgendwann rief ich beim Besitzer des Raumes (wir probtem im Gästeraum des Elternhauses eines unserer Mitglieder) und erfuhr, dass er das gute Teil an unseren Gitarristen verliehen hätte. Ach. Danke. Darf ich da vielleicht auch noch mitreden? Die Frage, die ich mir dabei stelle, ist: ist das eigentlich schon Diebstahl? Oder bin ich selbst Schuld, weil ich meine Sachen so bereitwillig aus der Hand gebe? In was für einer Welt leben wir, dass wir nicht nur darauf achten müssen, auf die Dinge aufzupassen, die wir gerade in unserer Umgebung haben, sondern auch auf die, die andere in ihrer Nähe wissen. Ich kann nicht einfach guten Gewissens meine Sachen verteilen, ohne daran zu denken, sie entweder kaputt oder gar nicht wiederzuerhalten.

Mittlerweile mache ich das auch gar nicht mehr. Ich verleihe kaum bis gar keine Dinge und wenn, dann nur noch so, dass ich sie mir möglichst einfach und unkompliziert selbst wiederholen kann, wenn der Abnehmer es nicht aus eigener Kraft schafft, dafür zu sorgen, dass sie wieder in meinen Besitz überwandern. Ich finde das vor allem schade. Jeder will alle für sich haben. Dabei haben wir so viel. Nicht jeder braucht ein eigenes Auto. Nicht jeder braucht eine eigene Dusche. Es gibt so viele Dinge, die man unkompliziert teilen kann – und eigentlich auch sollte. Auf dieser Basis funktioniert das natürlich nicht. Fortschrittliche Entwicklungen wie Carsharing, Fahrradverleihs oder Büchereien sind eine wirklich tolle Sache, nur leider weiß sie kaum jemand zu schätzen. Noch.
Aber irgendwann wird soetwas unabdingbar sein und vielleicht entwickelt sich aus der Notwendigkeit heraus endlich die Mentalität, die man dazu braucht, die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.

Lübbecke

Es ist wohl (leider) jedem bekannt, dass „Städte“ mit < 50.000 Einwohnern existieren. Eine dieser „Städte“ ist Lübbecke. Lübbecke liegt im nordwestlichsten Zipfel Nordrheinwestfalens, in OWL, irgendwo zwischen Bielefeld und Hannover, an der Grenze zu Niedersachsen. Niedersachsen, ein wunderschönes Bundesland mit wunderschönen Städten wie Bremen, Goslar, Hamburg (irgendwie). Niedersachsen hat die Berge und das Meer, es ist das perfekte Bundesland. Und dann kommt Nordrhein-Westfalen. Nordrhein-Westfalen, dieser Name allein ist schon so dermaßen hässlich, dass selbst ich lange Zeit nicht wusste, wie und vor allem wozu man das überhaupt schreibt. Nordrhein-Westfalen, ein Bundesland, das auftrumpft mit Städten wie Essen, Duisburg, Düsseldorf, Köln, kurzum ein Land, das denkt, es sei cool, weil die einzigen größeren Städte völlig vollbetoniert und verdreckt sind. In diesem Bundesland liegen alle Städte, die ich hasse. Bochum zum Beispiel – wieso sollte man freiwillig in Bochum wohnen?! Oder Köln. Das einzig schöne an Köln ist der Rhein, und den gibts auf einer Länge von 1238km auch woanders. Und: Bielefeld. Eine Stadt, die sich damit rühmt, nicht zu existieren. Ich glaube, das sagt schon alles. Aber der Ort, den ich wirklich am allermeisten hasse, noch mehr als Köln und Bochum und Bielefeld zusammen (die sind einfach nur hässlich. Damit kann man noch irgendwie leben) ist Lübbecke. Für mich wäre die Existenz dieser Gemeischaft auch nicht weiter tragisch, ich könnte das gut verdrängen, wenn sie mich nicht unmittelbar selbst beträfe.

Was ist so schlimm an Lübbecke? Ist es hässlich? Nicht mal das. Lübbecke hat den Mittellandkanal, einen großen Wald und eine niedliche Innenstadt. Außerdem ist Lübbecke ein einziger Berg, was zwar unpraktisch ist, aber auch einen gewissen Charme verleiht. Nein, was so schlimm an Lübbecke ist, ist seine Größe. Und seine Einwohner. In Lübbecke ist es leider Gottes völlig normal, dass um 18h niemand mehr aus dem Haus geht. Da werden sozusagen „Die Bürgersteige hochgeklappt“. Man könnte jetzt argumentieren, gut, es ist eben ein Dorf, mit lauter alten Leuten. Aber dieses Dorf hat ein Gymnasium. Und ich frage mich: sind sogar schon die Jugendlichen hier so verspießt, dass sie nicht mal mehr nach 18h rausgehen? In Lübbecke gibt es keine Graffitis. Vielleicht liegt das an diesem Verbot, das Zimmer zu verlassen, sobald es dunkel wird. In Lübbecke gibt es auch keine Gangs und wenn es welche gäbe, wäre die größte Bedrohung, die sie aussendeten, ihre schiere Existenz. In Lübbecke gibt es keine Bettler, es gibt nicht mal Aldi. Es ist eine Stadt, die mit einem Prunk prahlt, der nicht vorhanden ist.

Ich könnte damit leben, dass ich nach 18h keinen Kaffee mehr bekomme. Ich könnte auch damit leben, dass Geschäfte samstags, an dem Tag, wo man Zeit hat, um all die Dinge zu erledigen, für die man sonst keine Zeit hat und die man schon sonntags nicht erledigen kann, weil sonntags erstrecht alle Läden zu haben, nur von 11 – 16h auf haben. Das sind Dinge, nach denen ich mich richten kann. Aber wonach ich mich nicht richten kann, ist der Bahnhof.

Oder wie auch immer man dieses Ding nennen soll, denn den Namen „Bahnhof“ hat es eigentlich nicht verdient. Es ist ein Gleis mit einer Nummer dran, daneben ist zwar ein Bahnhofsgebäude, aber wenn man dieses tatsächlich betreten könnte, wäre das geradezu revolutionär. Aber eigentlich gibt es gar keinen Grund, es zu betreten, denn es fahren stündlich ganze zwei Züge, einer um zwanzig nach in Richtung Bielefeld und einer um fünf nach halb in Richtung Rahden. Mehr nicht. Bielefeld und Rahden, wenn man von Lübbecke aus mit dem Zug eine Fernreise unternehmen möchte, muss man erst mal mit dem Auto bis nach Espelkamp fahren, um überhaupt eine Fahrkarte zu kaufen, denn in Lübbecke fährt nur eine eurobahn, die bekannterweise ihre Fahrkartenautomaten im Zug haben. Gut, es kommt nicht oft vor, dass man eine Fernreise unternimmt, wenn man in Lübbecke wohnt. Schließlich gibt es in dieser Stadt alles, was man braucht, wenn man freiwillig dorthin zieht, nämlich gar nichts. Ich persönlich könnte mich mit dem Fahrkartenautomaten im Zug auch arrangieren und das habe ich inzwischen auch größtenteils, aber was ist mit den armen alten Omas, die fast die gesamte Bewohnerzahl ausmachen, die mal ein großes Abenteuer wagen und mit dem Zug fahren wollen?

Arme, alte Omas, die nicht wissen, dass der Zug keine ec-Karten akzeptiert? Oder 50€-Scheine? Oder 20 Centmünzen? Arme, alte Omas haben vielleicht noch Glück. Aber als ich das erste mal mit diesem Zug fahren wollte, hatte ich kein Bargeld dabei. Und musste prompt 40€ zahlen, weil ich nicht in der Lage war, ein Ticket zu kaufen. Man möge sich darüber echauffieren, wie man will (und glaubt mir – das habe ich), aber die Schaffner können da gar nichts für. Die sind nämlich alle komplett irre. Ich meine das wörtlich, ich habe auch schon eine „gelbe Karte“ bekommen. Es ist lächerlich genug, dass eine Eisenbahngesellschaft so etwas wie gelbe Karten austeilt. Gelbe Karten sind Schiedsrichtern und Kindergärtnern vorbehalten, alles andere ist und bleibt einfach lächerlich. Diese gelbe Karte ist für Leute, die den Zug verschmutzen. Wie es der Zufall so will, gibt es natürlich auch eine rote Karte. Wenn man diese erst mal freigeschaltet hat, fällt eine Reinigungspauschale von 20€ an. Ich hätte kein Problem mit der gelben Karte gehabt, auch nicht mit ihrer Unseriösität, wenn sie gerechtfertigt wäre.

Es ergab sich nämlich Folgendes: im Zug selbst befanden sich neben mir vielleicht 10 Menschen. Eurobahnen sind klein, aber nicht so klein, als dass nicht bei 10 Menschen jeder einen Viererplatz für sich allein hätte ergattern können und trotzdem noch massig frei wären. Ich hatte also meinen Rucksack auf dem Stuhl vor mir und meine Füße auf dem Rucksack. Ich bekam eine gelbe Karte. „Wieso das denn?“, fragte ich. „Lesen Sie doch mal, was dort steht.“ „Blabla Reinigungspauschale blabla.. aber ich mache den Sitz doch gar nicht dreckig, deswegen liegt dort doch mein Rucksack.“ Die Antwort, die ich bekam, führte zu meiner sofortigen Wegnahme des Rucksacks: „Sie blockieren mit ihren Füßen und ihrem Rucksack den Sitz. Es könnten sich vielleicht Leute draufsetzen wollen.“ Ich war sprachlos. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einem fast leeren Zug eine Person ausgerechnet auf den Platz direkt vor mir, nicht neben oder schräg gegenüber von mir, hätte setzen wollen, war ziemlich gering. Und verschmutzt hatte ich auch nichts. Nichtsdestotrotz bekam ich diese Standpauke.

Diese Schaffnerin fiel nicht nur mir negativ auf (mehrmals). Sogar die Fahrkartenverkäufer in Espelkamp kennen sie als „die Verrückte“. Ich bin also nicht nur dazu gezwungen, in einem Zug zu fahren, der in lauter Städten hält, die niemanden interessieren, wie z.B. „Bieren-Rödinghausen“ oder dem Bedarfshalt „Neue Mühle“, der sogar so dermaßen unwichtig ist, dass man, wie im Bus, eine Stopp-taste drücken muss, nein, ich bin auch noch dazu gezwungen, völlig weltfremdes Dienstpersonal zu erleiden. Allein das schießt Lübbecke für mich als potenziellen Wohnort ins Aus.

Aber all das wäre sogar noch irgendwie ertragbar. WENN WENIGSTENS AUCH SONNTAGS SICH DIE BAHN NICHT ZU BEQUEM WÄRE, UM STÜNDLICH ZU FAHREN. Denn sonn- und feiertags ist man nur etwa alle zwei Stunden in der Lage, diesen wunderschönen Ort zu verlassen.

Der letzte Zug fährt um 19.40h. Gute anderthalb Stunden, nachdem die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Wenn man das weiß, kann man sich auch darauf vorbereiten. Aber wehe, man vergisst es. Denn der Weg bis zur Innenstadt, wo man in einer der zahlreichen (3) Lokalitäten, in denen man evtl. nach 18h noch einen Kaffee bekäme, ums ich die Zeit zu vertreiben, dauert geschlagene 20 Minuten. Denn natürlich ist es dieser Stadt, die so unglaublich reich ist, weil dort ein riesiges Industriegebiet ist, in der Firmen wie Gehwohl ansässig sind, es keine armen Leute gibt und dort nur Omas wohnen, die Schutzwesten für Bäume stricken, nicht möglich, ein Café, einen Imbiss oder irgendetwas anderes in die Nähe des Bahnhofs zu bauen. Wenn man also eine Stunde warten muss, weil der Zug es nicht für nötig hält, zu kommen, hat man entweder die Wahl, den ganzen gottverdamten Berg wieder hochzulatschen, oder in der Kälte zu warten und sich mit dem Snacks aus dem großzügigerweise bereitgestellten Snackautomaten zu begnügen.

Mir ist das mehr als einmal passiert. Es geht einfach nicht in meinen Kopf, wie eine Stadt existieren kann, in der es Tage gibt, an denen die Züge nur alle zwei Stunden fahren, weil zufälligerweise ein anderer Wochentag ist als sonst.

Aber zum Glück ziehe ich ja im Dezember nach Berlin. Dann werde ich mich wahrscheinlich darüber aufregen, wieso die S-Bahn Freitagmorgen um 3 nur noch alle vierzig Minuten fährt.