Vertrieben
Ich weiss nicht. Tage gehen vorbei. Es ist hell, die meiste Zeit. Gerade bin ich allein und weiss nicht, wohin mit mir. Ich muss lernen, arbeiten, irgendetwas, aber kann mich seit Tagen nicht aufraffen. David ist in Riga. Er wollte morgen frueh wiederkommen. Nun wird er wohl bis zum 11. dort bleiben. Wir sprechen kaum. Ich vertraue ihm nicht.
Im Mai und April war ich wahnsinnig beschaeftigt. Nun eher weniger, das heisst, ich unterrichte weniger. Dafuer bin ich niedergeschlagener. Ich will, dass alles vorbei ist, aber ich weiss nicht genau, was dieses „alles“ beinhaltet. Ich bin konstant muede und will meine Ruhe.
Am Mittwoch waren wir auf einem Konzert. Это этно hiess es – das ist Ethno. Dabei waren eine Band aus Zigeunerfrauen unterschiedlichen Alters und ein Regisseur/Musiker, der anscheinend in Russland und Osteuropa unglaublich erfolgreich ist. Jedenfalls war alles voll und alle schienen ihn zu kennen und zu feiern. Ich mochte seine Musik, aber seltsam war es schon – so umringt von einer Masse, die ganz genau weiss, was hier passiert, und du, die nicht ein Wort versteht. Ein paar Maedchen aus der Menge haben uns angepflaumt, wir sollten weniger tanzen. Weniger miteinander reden. Kurzum, weniger Spass haben. Was man eben alles so fuer gewohenlich nicht macht bei einem Konzert. Morgen ist auch irgendetwas mit Videoinstallationen angesagt. Es ist Sophies letzter Abend. Danach geht sie zurueck nach Deutschland. Ich weiss nicht, was ich von diesem Menschen halten soll. Auf der einen Seite macht es schon Spass, sich mit ihr zu unterhalten. Auf der anderen Seite hat sie gestern einfach kommentarlos meine ganzen Cracker gegessen, die ich gerade gekauft hatte, und mir dann obendrein etwas von meinem Popcorn, welches ich gerade gekauft hatte, angeboten. Dafuer hat sie heute Shakshuka gemacht, also vielleicht sind wir quitt.
Ich vermisse David, aber ich bin auch die ganze Zeit sauer auf ihn. Ich glaube, weil wir nicht vernuenftig reden koennen, weil ich es nicht gewoehnt bin, dass er so lange so weit weg ist, weil ich ihm immer noch nicht traue seitdem, und immerzu denke, er will gar keine Zeit mit mir verbringen, selbst wenn sie nur digital ist. Ich habe das Gefuehl, er ist ganz froh, ein bisschen seine crazy bitch loszusein. Was vermutlich nicht stimmt, aber so ist es eben. Ich bin mir immer noch alles andere als sicher, dass wir unsere Beziehung wieder kitten koennen und all das gerade hilft nun wirklich nicht. Ich habe die ganze Zeit Angst, einen furchtbaren Fehler damit zu machen, bei ihm zu bleiben, aber gleichzeitig will ich mir nicht hinterher vorwerfen muessen, ich haette dem ganzen keine Chance gegeben. Aber vielleicht habe ich das ja schon laengst und es waere jetzt an der Zeit, einzusehen, dass es eben nicht funktioniert. Es faellt mir schwer, einen objektiven Blick auf die ganze Sache zu bewahren. Ich will nicht immer alles sofort wegschmeissen, wenn es ein bisschen schwierig oder unangenehm wird, aber woher weiss ich dann, wann es hoffnungslos ist?
In zwei Wochen fahre ich wieder nach Deutschland und schreibe meine Pruefung, letzter Versuch. Ich lerne viel, aber bin seitdem ich vor zwei Jahren damit angefangen habe, mich vorzubereiten, kein Stueck besser geworden (meine Probeklausuren haben immer noch genauso viele Fehler wie vorher). Sie haben die Pruefungsbedingungen anscheinend ein wenig veraendert, also ist vielleicht das mein einziger Ausweg.
In ein paar Tagen hat meine Arbeit ihre alljaehrliche Bootparty. Letztes Jahr hat eine Freundin von mir vor Langeweile ein paar Stuehle vom Boot geschmissen. Ich weiss gar nicht mehr, aus welchem Grund ich nicht da war, aber ich hatte irgendetwas anderes zutun. Letztes Jahr war sowieso ein wildes Szenario nach dem anderen. Dieses Jahr ist alles zumindest ein klein wenig ruhiger und geplanter.
Ich wuerde gerne mehr meiner Gedanken zu Papier bringen, aber ich fuehle mich, als muesste ich jeden Buchstaben einzeln aus meinem Gehirn herauswringen. Vielleicht ist all meine Kreativitaet schon aufgebraucht. Vielleicht habe ich auch einfach keine Gedanken mehr. Ich bin zu sehr beschaeftigt mit banalem Arbeits- und Beziehungskram. Meine Welt ist voellig eingenommen von unwichtigem Bloedsinn. Es ist zehn vor Elf und ich wuerde gerne schlafen – wie ich eigentlich den ganzen Tag schon gerne schlafen wollen wuerde – aber es ist so hell als sei es gerade einmal fuenf Uhr und ich bin allein. Ich koennte immerhin zu Zoe fahren und dort die Nacht verbringen, aber ich bin auch ein bisschen faul, denn ich muss morgen sowieso wieder hierhin, in Davids Zimmer, weil ich Waesche aufhaengen musste, nach dem Rechten sehen wollte und morgen um fuenf Uhr Skype Unterricht geben muss und das in einem Zimmer, das man sich mit zwei weiteren Personen teilt, nun einmal nicht so gut geht. Also bleibe ich hier, starre noch eine Weile ins nichts und versuche, die dunklen Gedanken zu vertreiben.