Weichenarbeiten

Ich war natürlich mal wieder viel zu früh am Flughafen. Nach dem letzten Desaster an Sylvester, wo ich fast meinen Flug verpasst hatte, weil SXF nicht auf den großen Ansturm vorbereitet war (ehrlich, wer hätte auch damit rechnen können, dass an Neujahr viele Leute verreisen?), wollte ich diesmal alles entspannt angehen. So entspannt, dass ich zwei Stunden hatte, um den Flughafen ausgiebig zu inspizieren. SXF ist kein großer Flughafen. Nach zehn Minuten war ich fertig, und die restliche Zeit verbrachte ich mit wütendem Warten. Aber dafür hatte ich drei Sitze für mich alleine, und die Sitze in den Aeroflot-Maschinen sind breit, also konnte ich auch breit sein.

Dann geschieht wieder zwei Stunden nichts, die Maschine rattert gemütlich über den Wolken seinem Ziel entgegen. In Petersburg werde ich angenehmerweise schon erwartet, und, was für eine Überraschung, es klappt tatsächlich alles reibungslos bis ich in meinem Wohnheimbett allein gelassen werde. Es erinnert doch alles sehr an Zehlendorf, nur irgendwie gemütlicher, dafür muss ich mein Zimmer aber auch mit jemand anderem teilen.
Ich beginne sofort, bei Airbnb nach freien Zimmern zu suchen. Ich bin am Ende der Welt von Sankt Petersburg, Obukhovo, davon habe ich vorher noch nie etwas gehört. Es ist nichts in der Nähe, weder Bar noch Fluss noch Leben, die beiden Kühlschränke sind zum bersten gefüllt und als ich den kleinen Laden um die Ecke besuche, schreit man mir entgegen: heute nur Bargeld. Ich habe kein Bargeld. Der Laden hat keinen Bankomat. Ich weiß nicht, wie das Hormon heißt, das für Verzweiflung zuständig ist, aber genau dieses fängt gerade damit an, es sich in meinem Gehirn äußerst gemütlich zu machen. Aber viel Zeit, um darüber nachzudenken habe ich nicht, denn ich muss direkt los zu Vera, um meinen Koffer abzuholen. Auf dem Weg dahin sterbe ich fast vor Hunger, komme aber an keinem Ort vorbei, an dem man fix etwas essen könnte, also muss ich darben. Außerdem ist es schon spät, also trinke ich dort nur einen Tee, wir verabreden uns für Freitag, und Vera fährt mich mit dem Auto bis zur Metro. Wieder dort angekommen, was ich von nun an für die nächsten paar Monate mein Zuhause nennen muss, erwartet mich meine neue Zimmermitbewohnerin. Nachdem ich den leeren Hamsterkäfig über ihrem Bett betrachtet hatte war das Kapitel eigentlich schon für mich erledigt – aber der Tag hielt doch noch eine Überraschung für mich bereit: sie ist ziemlich entspannt drauf. Gerade sitzen wir zusammen, jeder arbeitet vor sich hin – das heißt, sie arbeitet und ich schreibe diesen Artikel – und wir trinken Bier. Morgen fahren wir zusammen zur Uni, damit sie mir zeigen kann, wo das Büro ist, zu dem ich hinmuss. Ich habe inzwischen auch die anderen Menschen aus dem Wohnheim kennengelernt, auch die scheinen nett zu sein. Und es ist eigentlich ganz gemütlich hier. Bis zur Metro ist es nicht weit, und man kann ohne Umsteigen in die Stadt fahren. Ich glaube, ich kann mich dran gewöhnen.

 

// Es ist nur komisch; ich fühle nicht viel. Ich bin eben hier. Bin ich nicht hier, bin ich eben woanders. Das war auch in meiner WG in Berlin so, als ich sie besucht habe. Ich war eben da. Ich war nicht nostalgisch, nicht traurig, ich wohne da eben gerade nicht, mein Zimmer ist nicht mein Zimmer sondern Lennarts. Es ist irrelevant. Und nun bin ich hier. Ich kann damit leben.

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