Schienenersatzverkehr

Ich liege irgendwo auf einer Bank und starre nach oben. Ich sehe: weiß und blau, keine Decke aus Marmorkacheln, auch keinen Stuck, eigentlich sehe ich nichts besonderes, außer ein paar Wolkentupfer auf blauem Himmel. Ich starre also vor mich hin und sage: „Im Leben eines jeden Großstadtbewohners gibt es sechs Silben, die selbst dem härtesten Hell’s Angels Kuttenrocker einen eiskalten Schauer über den Rücken wandern lassen.“ Dramatische Pause. „Schienenersatzverkehr“. Ich deklamiere:
„Warten am Bahnhof
der Schienenersatzverkehr
kommt nicht und kommt nicht“
Ein Gedicht wie aus dem Poesiealbum, ein perfektes Haiku: fünf-sieben-fünf Silben, etwas, das hängen geblieben ist aus zwölf Jahren Gedichtanalyse in 27 Sprachen.
Ich springe plötzlich und völlig unerwartet von meiner Liegegelegenheit auf und fange an, auf und ab zu gehen und dabei leise vor mich hin zu murmeln:
„Leben ist eigentlich nichts anderes als warten, dass man stirbt. Alles dazwischen – im Zeitraum zwische Geburt und Tod – ist nur Ablenkung und Zeitvertreib. Wer bin ich, dass ich existiere? Was ist der Sinn meines, irgendeines!, Daseins auf dieser Erde? Nun stehe ich hier und kann nicht anders als warten. Auf den Schienenersatzverkehr. Der Gipfel der Sinnlosigkeit. Die Geißel der modernen Gesellschaft. Die Rache der Beamten aus dem öffentlichen Dienst, gleich nach den Öffnungszeiten vom Bürgebüro. Kurz: es ist das, was uns als Gemeinschaft zusammenhält. Vor dem Busfahrer sind alle Menschen gleich, egal, ob du Anna heißt oder Paris Hilton – für das ganze Warten wird jeder mit der gleichen Unfreundlichkeit belohnt und wenn Sie den Türraum blockieren, dann kann der Bus nicht losfahren, also gehen Sie verdammt noch mal durch bis ans Ende des Ganges! Und setzen Sie sich! Aber stehen Sie ja auf, wenn Schwangere vorbeikommen, oder Behinderte, oder Alte, oder Menschen mit viel Gepäck, oder Leute, die sich ihrer Sexualität nicht sicher sind und mal ’ne Pause brauchen vom ganzen Denken und überhaupt, was sind Sie nur für ein arroganter Kerl mit Ihrer Tasche auf dem Sitz neben Ihnen? Den Russen ist das mit dem Türrahmen zumindest egal. Wenn alle aufeinandergestapelt im Bus sitzen und dein Bein noch halb aus dem Fenster hängt, dann macht das auch keinen Unterschied. Solange die Räder noch frei sind, kann man auch fahren. Überhaupt, von dieser Gelassenheit könnten wir uns hier noch mal was abgucken. Wer braucht denn zum Beispiel noch Fahrpläne? Mit der Angabe „kommt alle 8 – 12 Minuten“ ist doch eigentlich schon alles gesagt. Die BVG fährt doch heimlich längst nach diesem Prinzip. Man sollte nur noch ein „kommt vielleicht“* *oder gar nicht hinzufügen. In der Praxis würde sich damit rein gar nichts ändern, aber in der Theorie gäbe es keine Verspätungen mehr – das gibt einem doch gleich ein viel besseres Gefühl. Und die ganze Energie, die man spart, wenn man sich nicht permanent über Verspätungen aufregen muss, kann man dazu verwenden, sich endlich mal die Leute anzuschauen, die einen umgeben. Da hätten wir zum Beispiel den klassischen neuzeitlichen Gesellschaftskritiker: steigt in Neukölln bewaffnet mit Thor Steinar Jacke und Paderborener Export in die Ringbahn ein und unterhält sich mit seinem Kollegen, Frühstückskorn, 30 Tage Bart, glasige Augen. Mögliche Konversation:
Person A: nimmt einen tiefen Schluck aus dem Bierbüchse. „Letztens ist mir ein Typ begegnet, sagt der mir einfach, ich sei Nazi, sag ich zu ihm „Spast, verpiss dich mal in dein eigenes Land!“
Person B: bekräftigendes Nicken. „Scheiß Ausländer!“
Beide verlassen die Bahn an der Hermannstraße.
(Nach einer wahren Begebenheit)
Nun, weiter bin ich mit dem Kategorisieren und Beobachten auch noch nicht gekommen, ich musste mich ja schließlich immer aufregen.
Nun vergeht die Zeit so schnell, wenn man Spaß hat und der Bus ist schon da. Ich lasse ein paar alte Damen vor, einen Mann mit Hund und ein Kind mit einem Rucksack, der vier mal so groß ist wie es selbst. Dann steige ich ein. Der Busfahrer guckt mich grimmig an. „Stop.“, sagt er. „Aber warum denn?“, frage ich. „Sehen Sie nicht, dass der Bus voll ist? Warten Sie gefälligst auf den nächsten!“ Ich schaue an dem Busfahrer vorbei. Alle Plätze sind belegt. Drei Leute stehen im Gang. „Wann kommt der denn?“, frage ich vorsichtig. „In zwanzig Minuten.“
Ach, verdammte Fahrpläne.

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