MonatMai 2020

Was ist nur los mit Russland?

Ich bin richtig wütend. Ich sitze hier in Sankt Petersburg und schreibe einer Freundin „Und was machst du so, um dich beschäftigt zu halten?“ und sie antwortet „Neben der Arbeit? Na ja, Yoga, Serien gucken .. ach und ich fahre jetzt zu Anna, sie macht eine Party.“

Als ich die Nachricht erhalte bin ich fassungslos. Vor ein paar Tagen erst wurde bekannt gegeben, dass der Lockdown bis zum 31. Mai verlängert wird. Ab heute müssen wir Masken und Handschuhen tragen, wenn wir auf die Straße gehen wollen. Und meine Freundin fährt zu einer Party.

Dabei ist sie längst kein Einzelfall. Die Parks sind mit Absperrband versehen, als klares Zeichen dafür, dass hier niemand hinein soll. Trotzdem sitzen die Leute in der Sonne, spielen mit ihren Kindern auf den Spielplätzen, kuscheln sich in Grüppchen zusammen, um ein Foto vom einzigen Kirschbaum der Stadt zu machen.

Neulich war ich bei dem kleinen Obst-und-Gemüse-Laden um die Ecke, um meinen Wocheneinkauf zu erledigen. Es ist bereits eine weitere Person im Laden, also stelle ich mich in die Nähe der Glastür, das ist der weit entfernteste Platz. Auch, weil ich dachte, es signalisiert: hier ist voll. Zwei Minuten später klingelt das Türglöckchen, ein c.a 75 Jahre alter Mann kommt hinein und stellt sich direkt neben mich, c.a zwei Zentimeter Abstand. Entschuldigung?

Putin hat für April einen „arbeitsfreien“ Monat angekündigt, der sich im Mai verlängert hat. Das klingt nach Ferien. Die Realität ist aber, dass die Unternehmen ihre Angestellten für diese Freizeit selbst bezahlen müssen. Vom Staat gibt es dafür keine Hilfen. Ich denke, ich bin nicht die einzige, die auf diese Weise ihren Job verloren hat.

Ein anderes Thema: Miete. Diese wird oft persönlich vom Vermieter oder durch ihn beauftragte Agenten abgeholt, in bar. (Das Warum will ich so genau lieber nicht wissen.) Diese Praxis hat sich auch in Corona-Zeiten nicht geändert. Wir mussten also neulich Miete bezahlen, und der Agent kam vorbei, natürlich ohne Maske, und sammelte das Bargeld ein. Kein Tanz im Sinne von ich lege es hier hin, mache einen Schritt zurück und dann nimmst du es. Das ist ein großes Problem: so ein Verhalten gilt ja im Normalfall als unhöflich. Jetzt ist es so, dass das Gegenüber meistens die momentan empfohlenen Regeln nicht akzeptiert. Und seinen Vermieter vor den Kopf zu stoßen will man natürlich auch nicht. Also beugt man sich, schüttelt Hände (und desinfiziert diese dann ganz schnell wieder, sobald er verschwunden ist) und versucht, seine fassungslose Miene zu verbergen.

Auch die Informationslage in Russland ist schlecht. Wenn man nicht gerade in Moskau wohnt, hat man ein großes Problem, an vertrauenswürdige und vor allem kohärente Informationen zu kommen. Letztens bin ich gescheitert, also fragte ich eine Freundin, ob sie es genauer wisse. Sie ist Russin, ich dachte, sie kennt sich besser aus mit den lokalen Medien, in jedem Fall beherrscht sie die Sprache besser als ich. Die Antwort: „mir ist das ganze egal, ich lese keine Nachrichten.“ „Aber ist es nicht wichtig, mit den momentan geltenden Gesetzen vertraut zu sein?“ „Wenn es etwas wichtiges gibt, werden die Leute schon reden.“ Danach wusste ich auch nicht weiter.

An den Läden hängen jetzt Schilder, dass man sie nur noch mit Maske betreten darf, und nicht mehr als zehn Personen. Aber das interessiert keinen, nicht mal die Angestellten. Es ist trotzdem voll und niemand trägt Maske. Und wenn die Leute doch eine tragen, dann meistens unterm Kinn. Wenn man Glück hat vielleicht vor dem Mund, aber niemals vor der Nase. Warum? Was bringt euch das?

Ich wollte mir letztens einen Coffee-To-Go holen und dafür meinen eigenen Becher benutzen. Mir wurde gesagt, dass sie das nicht machen können. Okay, gut, Hygienevorschriften. Aber Bargeld annehmen ist okay? Dieses Bargeld, dass von so viel mehr Menschen angefasst wurde, als mein Becher, der die meiste Zeit unberührt im Schrank steht?

Ich liebe diese Stadt und ich liebe ihre Leute. Ich mag ihre unbekümmerte Art. Normalerweise. Jetzt sorgt aber genau die dafür, dass wir länger und länger in Quarantäne festsitzen müssen. Denn irgendwie scheint keiner zu verstehen: wenn ihr euer Verhalten nicht ändert, dann ändert sich auch an den Zahlen nichts. Dann ändert sich nichts daran, dass alle nicht essenziellen Geschäfte, Bars und Cafés geschlossen sind. Der Gedanke hier scheint zu sein: wird schon vorüber gehen.

Es ist mir klar, dass man den Gesetzen, den Medien und der Regierung nicht unbedingt traut. Es ist Russland. Und deswegen kann ich es dem Großteil der Leute hier auch nicht übel nehmen. Zumindest denen, die kein Englisch sprechen und sich nicht anderweitig noch ein Bild der globalen Lage machen können. Aber auch die scheinen sich nicht damit auseinander setzen zu wollen, dass man sich in Russland genauso an Regeln wie Mindestabstand und Maskenpflicht halten muss, damit wir alle endlich wieder am Mittwochabend in der Kneipe sitzen können.