MonatMärz 2014

#Titellos

Weil, eigentlich soll das irgendwann noch weitergehen. Aber vielleicht ist es dafür doch schon zu persönlich geworden.

#1_________________________________________________________

An besonders einsamen Tagen sitze ich in meinem Bett in Berlin und starre auf die Kondensstreifen, die die Flugzeuge am Himmel hinterlassen.
„Weg, weg, weg!“, flüstere ich und kneife dabei die Augen zu. Als würde das etwas bringen.
Wenn ich ehrlich bin, ist jeder Tag ein besonders einsamer Tag. Man stelle sich nur dieses Bild vor: eine etwas zu groß geratene 18-jährige sitzt in ihrem dunklen Zimmer und starrt und wünscht und weint wie ein kleines Mädchen.
Nun, wenn einem alles genommen wird, dann bleibt einem auch nicht mehr viel. Irgendwann endet man so, man wird nicht so geboren, man wird einfach in dieses Leben hineingeschubst, ohne, dass man etwas dagegen tun könnte, und dann rutscht man. Wenn jemand rutscht, dann denkt man immer, dass sich schon irgendetwas zum bremsen finden wird, wenn man nur gut genug danach sucht, aber dem ist nicht so. Ich habe es gesehen. Wenn du erst mal anfängst zu rutschen, hält nichts dich auf, außer dem Baum, gegen den du knallst.
Ich versuche diesen Gedanken fortzuscheuchen. Einfach ist das nicht. Mein Blick wandert wieder zum Himmel, der langsam zu verblassen droht. Ich hasse die Dämmerung, es ist die traurigste Stunde des Tages und Traurigkeit besitze ich selbst zur genüge. Ich verstehe nicht, wie man es mögen kann, dieses Biest, das dir die Helligkeit nur noch vorgaukelt, obwohl es schon längst dabei ist, die letzten Tropfen Tageslicht aufzusaugen und die Welt mit ihrem Mantel aus Nacht und Dunkelheit zu erdrücken. Nicht, dass ich Angst hätte vor der Schwärze. Ich habe auch keine Angst vor den Gestalten, die die Nacht hervorbringt. Wovor ich mich fürchte, ist die Schwärze in mir drin, doch die ist immer da, unabhängig von der Tageszeit, und da kann niemand etwas dran ändern.
Mein Therapeut sagt, in mir kämpfen die guten gegen die bösen Kräfte und ich finde, das klingt, wie aus einem schlechten Buch geklaut. Mein Therapeut sagt auch, Suizid während der Therapie sei verboten. Ich habe ihm vorsichtshalber nicht erzählt, dass ich gedacht habe, dass mir das doch egal sein könne, wenn ich schon tot sei. Ehrlich gesagt bin ich auch nicht ganz sicher, inwiefern er das ernst meinte.

„Es ist alles in deinem Kopf“, sage ich mir. „Die guten wie die schlechten Dinge. Du kannst sie hervorrufen, wenn du willst. Du musst nur deine Augen schließen und ein bisschen träumen.“ Ja, tatsächlich, die war noch mit mir, meine Fantasie. Man kann jemanden so weit brechen, dass er keine Fantasie mehr besitzt. Mit mir ist das zum Glück noch nicht geschehen und so habe ich wenigstens etwas, das mich ablenkt, auch ohne die Hilfe von kleinen Glückstütchen.
„Bitte, bitte, liebes Hirn“ – ich versuche es sanft zu stimmen, denn es entführt mich nur allzu leicht in eher düstere Welten – „schick mich zurück nach Malmö!“

Ich versuchte, mich im Schlaf umzudrehen, aber das gestaltete sich als unaussprechlich schwierig. Mike und ich hatten, intelligent, wie wir nun mal waren, unser Zelt an einem Hang aufgebaut, in Folge dessen ich schräg lag. „Macht nichts“, dachte ich, „wenn du gleich wieder einschläfst, ist dir das egal.“ Ich dachte auch, dass mir ein bisschen kalt war, weswegen ich versuchte, mich näher an meinen Freund zu kuscheln.
Ich rutschte ein Stück nach unten, robbte wieder hoch, wiederholte mein Vorhaben, rutschte wieder runter und beließ es bei diesem Versuch. Was auch nicht weiter schlimm war, denn obwohl ich fror und doch sehr ungemütlich lag, war ich so müde, dass ich direkt wieder einschlief.
Als ich das nächste Mal aufwachte, tat ich es davon, dass ich schwitzte. Wie üblich in Zelten, in der Nacht ist es eiskalt, aber sobald die Sonne ihre Fühler ausstreckt, wirst du gekocht. Mike schien es nicht anders zu ergehen, denn er schaute ganz unglücklich drein und als ich sah, dass das Zelt inzwischen von einigen krabbelnden und fliegenden Mitbewohnern unserer Erde in Beschlag genommen wurde, stürmte ich ins Freie. Wir räumten unsere Behausung aus, taten unser Möglichstes, deren neue Bewohner zu verscheuchen und packten alles wieder zusammen. Dann setzten wir uns auf einen der Stege, die hier so zahlreich in die Ostsee ragten, schauten uns die Brücke nach Dänemark an, die Sonne, das Meer und die Menschen, die so verrückt waren, um sieben Uhr morgens ins kalte Wasser zu steigen.  Denn das war das Beste an unserem Schlafplatz: dass wir hinter einem Hügel auf einer Wiese gezeltet hatten, die sich am Ufer entlang ausbreitete.
„Ich glaube, ich will ein bisschen spazieren gehen. Ich bringe Kaffee mit, okay? Bin gleich wieder da!“, sagte ich zu Mike, der gerade noch dabei war, seine Scheibe köstlichstes dänisches Brot in wesentlich weniger köstlichen dänischen Frischkäse zu tunken. Er nickte nur. Was hätte er auch anderes tun sollen?  Schließlich war sein Mund voll Gebäck.
Ach ja.. diesen Teil der Geschichte hatte ich vergessen. „Halt, Hirn! Aufhören! Ich will nicht Kaffee holen gehen. Ich weiß, wie das endet: auf dem Rückweg verlaufe ich mich, weil ich denke, ich bin cool und ich will nicht den selben Weg gehen, den ich gekommen bin, ich will lieber am Wasser entlang gehen. Ich werde drei Stunden brauchen, bis ich wieder da bin und dabei mehr als einmal verzweifelt auf irgendeiner Halbinsel hocken, weil Malmö nur eine einzige Brücke hat. Ich werde hundertmal versuchen, Mike anzurufen und er wird nicht drangehen und ich werde heulen und mit dem Gedanken spielen, mich ins Wasser zu werfen und zu schwimmen. Also stopp! Darauf kann ich verzichten, okay?“
Aber das Hirn hört nur selten auf einen, wenn man auf es einredet, und deswegen ging ich natürlich Kaffee holen. Ich tat es nicht mal widerstrebend, ich tat es einfach, ich tat es, weil ich es tun musste, weil ich wusste, dass die Geschichte so weitergeht und ich erlebte all die Verzweiflung noch einmal.

Ich wache wieder auf und bin erst mal sauer. „So habe ich mir das nicht vorgestellt, du dumme Denkmaschine! Ich sagte, Ablenkung. Ich sagte, schön! Realitätsflucht, okay? Was bringt es mir, wenn ich von einer miesen Realität in einen noch mieseren Traum fliehe, hm? Was kannst du eigentlich?“
Es ist ziemlich müßig mit seinem eigenen Gehirn über dessen Funktionsweise zu diskutieren. Meistens verliert man, was auf der Hand liegt. Aber gerade ist mir das egal. Ich rede oft mit meinem Gehirn. Ich rede auch oft mit anderen Dingen. Menschen, die mich dabei beobachten, finden das komisch. Ich finde es komisch, dass mich Menschen dabei beobachten.
Ich fühle mich ein bisschen hilflos. Nachdenklich starre ich auf mein Handy. Soll ich, soll ich nicht? Ein Anruf, dann ein bisschen künstlicher Spaß und ein geruhsamer Schlaf. Eigentlich alles, was ich brauche. „Nein!“, sage ich mir, „Du bist stark! Du kannst das auch allein! Mit einer Menge Fantasie“ – vor meinen Augen sehe ich eine Kiste und einen Regenbogen – „ist alles möglich! Also gut, Hirn. Ich gebe dir eine zweite Chance. Großzügig von mir, nicht wahr? Und das, obwohl du mich so oft enttäuschst.“ Als ob ich eine andere Wahl hätte, füge ich in Gedanken hinzu. Aber nur in Gedanken, ich will ja nicht, dass Hirn hinterher wieder beleidigt ist. Nur, wo will ich diesmal hin? Was will ich sehen? Etwas Neues? Etwas Bekanntes? Etwas Ruhiges? Oder etwas Abenteuerliches? Nein, nichts Abenteuerliches, meine Abenteuer enden meistens ziemlich mies. Sie geben gute Geschichten ab, so wie alles, was mies endet, aber es ist nichts, was man unbedingt erneut erleben möchte. So wie das eine Mal, als ich an einer Felswand hing, auf einem Berg  in einigen hundert Metern Höhe, ungesichert, und unter mir ging es fast senkrecht in die Tiefe. Eine gute Geschichte, aber nichts, was ich unbedingt wiederholen möchte.
Meine Gedanken dümpeln so ein bisschen vor sich hin, bis mir einfällt, was ich will. Ja, wahrlich, das ist eine gute Idee.
Wieder schließe ich meine Augen und lasse mich von den Erinnerungen davon tragen.

„This one, size M, please.“, „Okay. Here’s your change.”, “Thank you!”. Beglückt schaue ich meine Neuerwerbung an: ein Tourshirt, Papa Roach, 2009, momentaner Standort: Berlin, Huxley’s neue Welt. Es war ein mühsamer Tag gewesen. Meine Freundin Renee und ich hatten uns früh aus dem Bett quälen müssen, weil Andreas, dessen klägliche Rolle in meinem Leben besser unbeachtet bleibt, zur Eile drängte. Ich hatte meine Haare frisch gefärbt, war beschwingt davon, einen Toilettendeckel kaputt gemacht zu haben dabei und davon, einen guten Freund wiedergesehen zu haben. Ja, dieses Wochenende war wirklich auf einem guten Wege. Und heute war endlich der Tag, auf den ich die ganze Zeit gewartet hatte. Das Konzert einer meiner Lieblingsbands, das zweite insgesamt, das ich überhaupt je besucht hatte. Ich war aufgeregt, natürlich. Vielleicht waren wir auch deswegen viel zu früh in Berlin, und es war nicht nur Sonntag, sondern auch noch Tag der deutschen Einheit, also hatten sämtliche Geschäfte gleich zwei Gründe, um geschlossen zu haben. So saßen wir also stundenlang vor dem Eingang der Konzerthalle. Was sich als äußerst positive Fügung des Schicksals erwies, denn plötzlich strömte ein Pulk von ungefähr fünf Menschen auf eine Stelle ein paar Meter hinter uns zu. „Da ist irgendwer famous. Da müssen wir hin!“, rief Renee aus und war schon auf den Beinen. Ich trottete hinterher. Und stellte fest, dass die Helden, wegen derer wir die lange Fahrt auf uns genommen hatten, plötzlich auf dem Parkplatz standen, Autogramme verteilten, Fotos mit sich machen ließen und Fans kuschelten. Dorthin schweiften meine Gedanken gerade ab, als ich das T-Shirt in Händen hielt, als mich eine Stimme rief. Ich ging auf sie zu und plötzlich stand neben mir jemand Fremdes. Und es war der wunderschönste Fremde, den ich je gesehen hatte. „Wow“, dachte ich, „den willst du. Du wirst ihn nie wieder sehen, aber den willst du.“ „Hast du mich gerade gerufen?“ „Nein, wieso?“ „Jemand hat gerade meinen Namen gerufen.“ „Ich wurde gerufen.“ „Bist du sicher?“ „Ja, hier. Das ist meine Freundin. Sie rief mich.“ „Aber ich heiße auch so.“ „Nein, ich heiße so.“ „Nein, ich!“ Wie lustig. Wie herzergreifend lustig. Da fährt man zu einem Konzert, hunderte Kilometer weit weg von Zuhause, man bewegt sich ein bisschen, geht verloren, wird gesucht und trifft dadurch jemanden, der genauso heißt, wie man selbst. Oh, hätte ich gewusst, wie diese Begegnung mein Leben verändern würde! Der Fremde stellte mir noch seine Freunde vor und dann begann bald das Konzert. Wie es der Zufall so wollte, schafften wir es jedes Mal, gemeinsam auf den Boden zu fallen. Wie es der Zufall so wollte, fühlte sich das wunderschön an. Als ich ihn fragte, wo er wohnte, hoffte ich auf etwas in meiner Nähe. „Berlin“, meinte er. „Mist“, dachte ich. Dennoch schrieb er mir seine Adresse auf den Arm. Mir war klar, dass wir trotzdem nie wieder miteinander reden würden. Doch wir taten es. Wir taten es viel. Und wir sahen uns. Oft. Und öfter. Und immer öfter. Und wir küssten uns. Und wir liebten uns. Sechs Monate liebten wir uns, so sehr, wie zwei Menschen sich nur lieben können, und dann trennten wir uns..
„Okay, das reicht. Du musst diese schöne Erinnerung nicht wieder kaputt machen, nur, weil du jetzt wieder das Ende vorweg nimmst, okay? Bis zu dem Punkt, wo wir draußen standen, Donuts aßen und Adressen austauschten, war es ein schöner Abend. Kompanie halt. Aufwachen! Aufwachen!“

Diesmal wache ich tatsächlich auf, aber ich zahle auch den Preis: der unschöne Nachgeschmack, den diese Gedanken immer wieder hinterlassen. „Vorwärts blicken, altes Haus.“, rede ich mir ein, aber ich war schon wieder traurig. Natürlich war ich traurig. „Wie oft sage ich dir, du sollst dich nicht in solchen Erinnerungen suhlen wie ein Schwein im Schlamm, natürlich sind sie schön, zu schön, aber sie alle enden bitter, und das weißt du.“ Darauf schweigt mein Gehirn erst mal. Es schweigt lange. Es schweigt so lange, bis ich einfach einschlafe, weil mir das ganze Geschweige zu anstrengend wird.